Zu Risiken und Nutzen fragen Sie die AOK
70 bis 80 % aller Ärzte wissen nicht über medizinische Tests Bescheid, meint Prof. Gigerenzer. Trotzdem würden Patienten überredet, verängstigt und von einem Wust an Informationen in die Irre geführt, moniert der Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sowie des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, Berlin.
„Wir brauchen ein ehrliches System“, sagte er bei der Vorstellung der unter seiner Leitung entwickelten „Faktenboxen“ des AOK-Verbandes. Diese sollen eine „ganz einfache und klare Darstellung medizinischer Erkenntnisse“ sein. Es handelt sich dabei um jeweils drei Blätter mit Zahlen, Grafiken und Erläuterungen plus Quellenangaben.
Nahrungsergänzungsmittel, Röntgen und Ultraschall
Mit elf Themen startet die AOK. „Kein Nutzen“ heißt es z.B. bei Vitamin D bzw. Selen als Schutz gegen Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Kein Nutzen“ heißt es auch zum Röntgen bei Rückenschmerzen (Ausnahmen: Unfälle und Verletzungen). Schmerzlinderung durch Stoßwellentherapie beim Tennisarm: „kaum Nutzen“.
Dagegen betont die Kasse den Nutzen einer Grippe-Impfung für Menschen ab 60 Jahren und den Nutzen der kombinierten Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln bei Kindern. Sie informiert anschaulich über die Regelungen zum Kinderkrankengeld und einer kieferorthopädischen Behandlung.
Anhand von absoluten Zahlen wird beispielsweise gezeigt, dass ein jährlicher Ultraschall zur Früherkennung von Eierstockkrebs den Frauen keinen nachweisbaren Nutzen bringt, sondern vielfach schadet. Statistisch gesehen versterben von 1000 Frauen – egal ob mit oder ohne Ultraschallfrüherkennung – drei an Gebärmutterhalskrebs. Bei Frauen mit Ultraschall wird in 103 Fällen ein auffälliger Befund ermittelt. 94 Mal handelt es sich aber um einen Fehlalarm. 31 Mal erfolgt die unnötige Entfernung der Eierstöcke.
Laut Prof. Gigerenzer stammt die Idee für die Faktenboxen aus Obamas Gesundheitsreform. Weil von Interessengruppen bekämpft, wurde sie in den USA jedoch bislang nicht umgesetzt. „Ich bin froh, dass wir damit in Deutschland weiter sind“, so der Risikoforscher.
„Zu viele Ärzte, die nicht gut informiert sind“
Dass 80 % der Ärzte zu wenig wissen, bezweifelt der Chefarzt Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig. Der Berliner Onkologe und Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft konzediert allerdings: „Es gibt zu viele Ärzte, die nicht gut informiert sind.“ Ursachen seien Zeitdruck, aber auch „Desinformation“ durch Industrie, bei Fort- und Weiterbildung, durch Kollegen und Fachzeitschriften.
Er verweist auf die mittlerweile mehr als 100 Nutzenbewertungen des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz: „Wir wissen, dass die Ergebnisse nicht bei den Ärzten ankommen.“ Ärzte würden regelmäßig auch Arzneimittel verordnen, die laut Beschluss des G-BA keinen Zusatznutzen haben.
Prof. Ludwig rät zur kontinuierlichen Überarbeitung der Faktenboxen sowie zur Berücksichtigung patientenrelevanter Endpunkte nach der Zulassung von Arzneimitteln. Er schlägt vor, die Polypharmazie in einer Faktenbox zu thematisieren. Schließlich bekämen 30 % der über 65-Jährigen mehr als fünf Medikamente verordnet. Prof. Ludwig hält es für nötig, Patienten und Ärzten die Risiken der Polypharmazie vor Augen zu führen und zugleich Wege zum Absetzen von Arzneimitteln zu zeigen – wobei allerdings Patienten wichtige Medikamente nicht vorenthalten werden dürften.
Info-Blätter auf Englisch, Türkisch und Russisch
Jürgen Graalmann, Chef des AOK-Bundesvorstandes, beklagt, dass die Informationsfülle im Internet zu erheblichen Orientierungsproblemen führt. „Die Menschen haben Schwierigkeiten dabei, Gesundheitsinformationen zu finden, sie zu verstehen, sie dann einzuordnen und schließlich umzusetzen.“ Er bezeichnet die Faktenboxen, die es auch in Englisch, Türkisch und Russisch gibt, als einen Kompass zur Bewältigung der Informationsflut.