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Wenn Maschinen die elektronische Patientenakte lesen

e-Health Autor: Wilfried Deiß

Wie wird das System mit all diesen Daten fern jeder menschlichen Kontrolle umgehen? Wie wird das System mit all diesen Daten fern jeder menschlichen Kontrolle umgehen? © iStock/Greyfebruary
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Das Terminologiesystem SNOMED-CT übersetzt Arztberichte in maschinenlesbare Ziffernfolgen. Bleiben dabei alle Informationen erhalten? Kann das System Kausalitäten erkennen? Welche Vorteile haben die Patienten eigentlich davon? Überlegungen eines Arztes aus der Praxis.

Mit Beginn des kommenden Jahres haben Patienten einen Rechtsanspruch auf eine elektronische Patientenakte. In den offiziellen Patienteninformationen geht es dabei um Informationsbereitstellung für Ärzte und andere Akteure im Gesundheitswesen. Im „Kleingedruckten“ liest man dann von Bereitstellung der Daten in pseudonymisierter Form „für die Forschung“. Und dann wird noch die „Gesundheitswirtschaft“ erwähnt.

Doch um all die Daten lesen zu wollen, muss der Computer das erst mal können. Dass Großcomputer riesige Datenmengen durchforsten können, weiß man. Arztbriefe bestehen aber nicht nur aus Diagnosen, sondern vor allem aus Text. Computer können aber weder lesen noch im menschlichen Sinne verstehen. Also müssen die Inhalte der Arztbriefe in eine für Computer lesbare Form gebracht werden.

Ein Computer kann keinen freien Text verstehen

Bei schematisierten Diagnosen ist das einfach: Gibt es mehrere Worte für dieselbe Diagnose, wird daraus eine ICD-Nummer. Der Vorderwand-Herzinfarkt heißt dann I21.0G, und zwar auf der ganzen Welt. Bei frei geschriebenem Text ist dieser Vorgang jedoch weit schwieriger. Deswegen gibt es SNOMED-CT, ein hochkomplexes Klassifikationssystem, das freien Text in einen Code, also eine Ziffernfolge, umwandelt, der dem frei geschriebenen Text entspricht und von Computern „verstanden“ und verarbeitet werden kann. Das System soll als semantische Basis für die medizinischen Informationsobjekte (MIO) dienen, die die KBV derzeit als standardisierte Dateneinheiten für die elektronische Patientenakte (ePA) entwickelt. Mittels SNOMED werden in der Telematik-Cloud also aus dem Text der Arztberichte Metadaten generiert, die dann für „Forschung“ oder „Gesundheitswirtschaft“ weiter verwendet werden sollen.

SNOMED-CT

Die Abkürzung SNOMED-CT steht für „Systematized Nomenclature of Medicine – Clinical Terms“. Das Terminologiesystem übersetzt freien Text in maschinenlesbare Codes und schafft somit eine einheitliche Sprache, in der Computer miteinander kommunizieren können. Es umfasst über 300 000 medizinische Begriffe und wird weltweit genutzt. Seit März 2020 hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung eine dreijährige Pilotlizenz. Gemäß Patientendaten-Schutzgesetz könnte es 2021 auch eine Nationallizenz geben. Dies setzt voraus, dass Deutschland ein Mitglied von SNOMED International wird, der Non-Profit-Organisation, die das System entwickelt.

Autor: Isabel Aulehla

Krankheiten und Diagnosen allein sagen aber nur wenig über den Gesamtzustand und den Leidensdruck des Patienten aus. Krankheiten und Diagnosen sind lediglich Begriffe, mit denen wir Zustände sortieren können. Das menschliche Gehirn benötigt Schubladen. Die ärztliche Wahrnehmung besteht trotzdem aus sehr viel mehr als nur der Suche nach Befunden und Diagnosen. Zu den „messbaren“ Ergebnissen der medizinischen Kunst kommt der Gesamteindruck hinzu: Körperhaltung? Stimmungslage? Nähe und Distanz? Selbstbewusstsein? Unsicherheit? Angst? Leidensdruck? Mehr seelisch oder mehr körperlich? Ein für mich wichtiger medizinischer Lehrer sagte mal: Wenn sie etwas über Menschen lernen wollen, lesen Sie keine Fachbücher und Arztberichte, sondern gute Literatur. Dazu kommt: Alles, was wir sehen, hören, fühlen, messen, auf Bildern festhalten, ist eine Momentaufnahme. Wenn zwei Patienten mit hohem Fieber und starken Kopfschmerzen bei mir in der Praxis sitzen, kann es sein, dass ich den einen nach Hause ins Bett schicke, den anderen mit Blaulicht ins Krankenhaus. Denn der Verlauf spricht bei dem einen für eine harmlose fieberhafte Virusinfektion, beim anderen für eine gefährliche Hirnhautentzündung. Und wie wird SNOMED-CT eigentlich damit umgehen, wenn es außerhalb jeder menschlichen Kontrolle Metadaten generiert, die dann im Gesamtsystem weiter verwendet werden? Beispiel: Posttraumatische Belastungsstörung – diese Diagnose allein sagt wenig. Genauer könnte es z.B. darum gehen: Posttraumatische Belastungsstörung durch Kindheitstrauma. Das ist schon sehr persönlich. Noch genauer: sexueller Missbrauch. Eine zweifellos sehr sensible Information. Und noch weiter ins Detail: durch Familienangehörigen. Durch den Vater. Das sind hochsensible Informationen, wie sie in Arztberichten oft vorkommen. Was macht SNOMED-CT daraus? Bis zu welcher Stufe wird Vokabular in die entstehenden Metadaten einbezogen? Kann SNOMED-CT Abwägungen im Text erkennen und bewerten? Erkennt es Wahrscheinlichkeiten? Kann es hohe Relevanz oder niedrige Relevanz unterscheiden? Stellt SNOMED-CT Verbindungen mit den Daten anderer Familienangehöriger her? Ist allen Beteiligten bewusst, dass die einmal generierten Metadaten für immer im System bleiben? Wo werden die Metadaten außerhalb menschlicher Kontrolle noch verwendet? Die Befürworter werden sagen: „Bei der pseudonymisierten Analyse großer, ungeordneter Datenmengen geht es doch gar nicht darum, für einzelne Menschen konkrete Entscheidungen zu treffen. Stattdessen werden statistische Berechnungen für große Zahlen von PatientInnen durchgeführt, als Basis für zukünftig erfolgreiche Wissenschaft.“ Aber was wissen wir eigentlich bezüglich dieser Vorteile, die uns hier versprochen werden? Gibt es ein Modellprojekt? Oder machen wir hier einen hochriskanten Großversuch mit der Gesamtbevölkerung? Wollen wir uns wirklich darauf verlassen, dass ein komplexes Algorithmen-System „selbstlernend“ Menschen mit Begriffen und Informationen verknüpft, ohne etwas über Persönlichkeiten und Verläufe zu wissen, ohne individuelle Bedeutungen zu kennen? Künstliche Intelligenz (KI) ist mehr als das Abarbeiten von Programmzeilen. KI muss in einer unsortierten, gigantischen Menge von Informationen Verbindungen und Beziehungen erkennen. Warum am Ende welche Ergebnisse entstehen, warum welche Daten mit anderen in Beziehung gesetzt werden, ist auch für Programmierer nicht mehr nachvollziehbar. Tatsächlich kann KI in unsortierten Datenmassen durch die Generierung von Metadaten eine Menge Korrelationen, also gleichzeitiges Auftreten von Ereignissen, ohne Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, finden. Aber sie können keine Kausalitäten finden. Sehr viele Korrelationen könnten vor allem Irre­führung und Fehlalarme bedeuten. Es könnte sein, dass wir die Nadel im Heuhaufen suchen und die Lösung darin sehen, dass wir den Heuhaufen größer machen. Kausalitäten finden, das geht nur mit Wissenschaft nach den Prinzipien von Wissenschaft.

Nutzen-Schaden-Abwägung gilt doch auch hier, oder?

Das wichtigste Prinzip in der Medizin ist die Abwägung von Vor- und Nachteilen für den individuellen Patienten. Diese Abwägung muss für jede (!) medizinische Maßnahme erfolgen, und zwar unter der Maxime: Wir dürfen dem Patienten nicht schaden. Dieser Teil der hippokratischen Tradition ist genauso alt wie das Arztgeheimnis und genauso wichtig. Die dauerhafte zentrale Speicherung von Patientendaten ist eine medizinische Maßnahme – allein schon, weil dafür Milliarden Euro an Versichertenbeiträgen verwendet werden, die an anderer Stelle fehlen. Die Minimalforderung wäre also: Zentrale Datenspeicherung und SNOMED-CT muss in Modellprojekten mehr Nutzen als Schaden nachweisen.

Crashkandidat, Zeitfresser und Hackermagnet

Dabei ist unsere elektronische Patientenakte längst vorhanden: dezentral in unseren Praxisnetzen. Unser Praxisnetzwerk enthält nach 23 Jahren Praxistätigkeit etwa 80 000 Arztberichte. Wenn diese Arztberichte bei Bedarf über ein sicheres Netz verschlüsselt mit anderen Ärzten ausgetauscht werden könnten, wäre das ein sinnvoller Einsatz von Digitalisierung und würde unseren medizinischen Alltag voranbringen. Was der Arzt in seine dezentrale ePA hineinschreibt, schreibt er selbst. Er weiß, wie er was gemeint hat. Missverständliches oder unglückliche Formulierungen weiß er zu bewerten. Er kann provisorische von endgültigen Aussagen unterscheiden. Er kann abschätzen, welche Bedeutung bestimmte Dinge für den Patienten haben. Entscheidungen werden individuell und gemeinsam getroffen. Das nennt man Arzt-Patient-Beziehung. Die derzeit unter Zwang forcierte Art der zentralisierten Digitalisierung des Gesundheitswesens macht alle Beteiligten abhängig von einem „Mas­ter-System“, das nicht nur crash- anfällig ist, nicht nur als Hacker-Magnet wirkt, nicht nur Unmengen an Zeit frisst, sondern auch eine Gefahr darstellt für wissenschaftlich basierte Medizin, da sie Ärzte vom Wesentlichen ablenkt. Eine bessere Alternative wäre dezentral, gemeinwohlorientiert, Open Source und freiwillig für Arzt und Patient. Die Demokratie ist gefragt und damit 73 Millionen gesetzlich versicherte Patientinnen und Patienten. Und inzwischen auch die „Kunden“ der Privatversicherungen. Die PKV wollte zunächst in der Telematik-Infrastruktur nicht dabei sein. Jetzt aber doch – seitdem von den Vorteilen der TI für die Gesundheitswirtschaft geredet wird. Das ist allerdings nur eine Korrelation, keine Kausalität.

Gastbeitrag

Wilfried Deiß; Hausärztlicher Internist, Siegen Wilfried Deiß; Hausärztlicher Internist, Siegen © Archiv
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