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Versorgung psychisch Kranker Hausärzten die Steine aus dem Weg räumen

Niederlassung und Kooperation Autor: Michael Brendler

Allgemeinärzte sind bei psychischen Problemen oft die ersten und auch einzigen Ansprechpartner der Patienten. Allgemeinärzte sind bei psychischen Problemen oft die ersten und auch einzigen Ansprechpartner der Patienten. © Summit Art Creations – stock.adobe.com
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Die meisten Menschen mit psychischen Problemen werden von Hausärzten betreut. Nur: Diese werden dafür nicht adäquat bezahlt. Wie kann man sie bei ihrer Aufgabe besser unterstützen? Ein Gespräch mit dem Allgemeinmediziner Prof. Dr. Jochen Gensichen von der LMU München.

Depressive Patienten werden zu 80 % in Hausarztpraxen behandelt. Auch bei Angststörungen, chronischen Schmerzen und vielen anderen psychischen Problemen sind Allgemeinärzte häufig die ersten und einzigen Ansprechpartner. Prof. Dr. Jochen Gensichen, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München, möchte den Kollegen für diese Aufgabe wirksame Werkzeuge zur Verfügung stellen. Dazu hat er gemeinsam mit einem Psychologen und einem Psychiater ein Handbuch geschrieben. Ein Gespräch mit dem Experten für mentale Gesundheit über die Bedeutung der Hausärzte bei der Versorgung psychisch Kranker und wie es in unserem Gesundheitssystem noch besser gehen könnte.

Herr Professor Gensichen, Sie haben ein Handbuch herausgegeben, das darauf zielt, Allgemeinärzte bei der Behandlung ihrer Patienten vor Ort optimal zu unterstützen. Wäre es nicht sinnvoller, diese würden stattdessen entsprechende Patienten zu Psychiatern weiterleiten?

Nein, Menschen mit leichten bis mittelschweren psychischen Erkrankungen sind beim Hausarzt sehr gut aufgehoben. Denn die ersten notwendigen Schritte sind sehr klar und für jeden Arzt machbar: Es ist schon eine sehr wirkungsvolle psychologische Maßnahme, wenn man den Betroffenen zuhört und ihr seelisches Leid anerkennt. Und Hausärzte greifen auf Ressourcen zurück, die andere Behandler nicht besitzen. Sie kennen ihre Patienten, sie genießen ihr Vertrauen und müssen nicht erst mühevoll eine therapeutische Beziehung aufbauen. Nicht im Sinne des Patienten wäre eine solche Weiterleitung zudem noch aus einem anderen Grund: Es gibt viel zu wenige Fachärzte und Psychotherapeuten, die für die Hausärzte einspringen könnten.

Und wann wäre der Zeitpunkt gekommen, einen Kollegen zu Hilfe zu rufen?

Die spezialisierte fachärztliche Versorgung sollte sich meiner Meinung nach in solchen Situationen auf die komplizierteren Fälle konzentrieren. Also auf die Fälle, bei denen der Hausarzt sagt: Okay, ich habe zügig die ersten Schritte gemacht, wir kommen nicht richtig weiter, kurz: Das geht jetzt über meine Fachkenntnis hinaus. Jetzt muss der Patient zum Spezialisten – und zwar möglichst bald.

Und was ist mit den Risiken? 

Eine Chronifizierung einer psychischen Krankheit ist zu befürchten, wenn jemand über Monate nicht adäquat behandelt wird. Es ist eine weit verbreitete, aber unnötige Angst, dass man zum Beispiel durch Ansprechen Suizidversuche triggern könne. Viel gefährlicher für den Patienten ist es, monatelang unbehandelt auf der Warteliste der Spezialisten zu verbringen.

In Ihrem Handbuch stellen Sie psychologische Kurzinterventionen für die Anwendung in Haus- und Facharztpraxen vor. Was ist das Ziel?

Natürlich sind Allgemeinmediziner schon sehr versiert im Umgang mit den wichtigsten Gesprächsführungstechniken. Unser Handbuch bietet evidenzbasierte psychotherapeutische Strategien, die so aufbereitet sind, dass sie bestens zu den Möglichkeiten einer Allgemeinarztpraxis passen. Wir sollten vor allem solche Gespräche noch fokussierter und strukturierter, also durchaus etwas strenger führen.

Und so eine Kurztherapie würde im Praxisalltag dann wie viel Zeit in Anspruch nehmen?

Im Schnitt kann man mit vier bis sechs Sprechstundenkontakten schon sehr viel erreichen, jeweils in der Länge von 20 bis 45 Minuten. Die  Begleitung der Patienten zwischen den ärztlichen Kontakten kann durchaus von medizinischen Fachangestellten übernommen werden. Das ist bedeutend weniger Aufwand, als er bei Spezialisten anfallen würde.

Und diese Leistung würde auch angemessen vergütet?

Die meisten Kollegen würden da wohl zunächst die diagnoseunabhängige EBM-Position 03230 für einen erhöhten Gesprächsbedarf nutzen (je vollendete 10 Minuten, 128 Punkte, 15,28 Euro). Sie kann auch mehrfach zum Einsatz kommen. Alternativ ist die Ziffer 35110 „Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen“ mit drei 15-minütigen Sprechstundeneinheiten abzurechnen – für jeweils 23,03 Euro. Nur: Die Gespräche müssen am jeweiligen Tag in zeitlich getrennten Sitzungen erfolgen. Für eine 30- oder 45-minütige Kurztherapie am Stück bekäme man deshalb nur die 23,03 Euro. Etwas behelfen kann man sich dann mit der Ziffer 35100 „Differenzialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände“. Aber das auch nur einmal pro Quartal. Solche Abrechnungsregeln kann man guten Gewissens als unzureichend bezeichnen.

Zum Vergleich: Wie viel würde ein niedergelassener Psychotherapeut für eine ähnliche Leistung bekommen?

Im Schnitt 120 Euro für 50 Minuten.

In Baden-Württemberg klagt eine Hausärztin gerade gegen einen Regress. Sie soll zu häufig die psychosomatische Grundversorgung durchgeführt haben. Pro 100 Patienten  hat sie die Ziffer 35100 mehr als sechsmal und die Ziffer 35110 mehr als zwölfmal im Quartal abgerechnet. Damit hat sie das arithmetische Mittel ihrer Kollegen überschritten. Was sagen Sie dazu?

Auch wenn diese Regresse nicht sehr oft vorkommen, schrecken sie doch ab und die Versorgung psychisch kranker Menschen verschlechtert sich eher. Es ist doch so: Hausärzte können und sollen mit ihrer großen Tradition der sprechenden Medizin diesen Patienten sehr gut helfen. Das müsste aber auch fair finanziert sein.

Kassen und KVen sind also gefragt, Möglichkeiten und Anreize zur psychosomatischen Grundversorgung  für Hausärzte zu schaffen?

Genau. Denn so wie es jetzt ist, werden Hausärzte eher ausgebremst. Und es bleibt ihnen dann häufig nur der Weg, auch schon leicht- und mittelgradig psychisch belastete Patienten an die Spezialisten weiterzuleiten. Was dann bedeutet, dass auch die Schwerstbelasteten oft über Monate in Warteschleifen hängen. Es gibt im Bundesgesundheitsministerium Überlegungen, mit dem nächsten Versorgungsstärkungsgesetz daran etwas zu ändern. Weil auch dort langsam die Erkenntnis reift: Wenn wir das seelische Wohl von Tausenden von Patienten verbessern wollen, sind Hausärzte die richtigen.

Medical-Tribune-Interview

Quelle: Jochen Gensichen u.a. (Hg.): Psychologische Kurzinterventionen: Für die Hausarztpraxis und die Psychosomatische Grundversorgung, Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, 53 Euro

Prof. Dr. Jochen Gensichen; Institut für Allgemeinmedizin LMU München Prof. Dr. Jochen Gensichen; Institut für Allgemeinmedizin LMU München © LMU Klinikum München
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