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Ambulante Pflege-Wohnformen liegen im Trend – ihre Vor- und Nachteile sind unklar

Gesundheitspolitik Autor: Anouschka Wasner

Häufig ist gar nicht ersichtlich, ob es sich um ein Pflegeheim oder um eine andere Wohnform handelt. Häufig ist gar nicht ersichtlich, ob es sich um ein Pflegeheim oder um eine andere Wohnform handelt. © iStock/shapecharge
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Während Minister Spahn die Intensivpflege in den Griff bekommen will, hat die Barmer Ersatzkasse ihre Forderung nach mehr Transparenz für ambulantisierte Pflege-Wohnformen erneuert. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung fordert ein Ende des Leistungswirrwarrs im Interesse pflegender Angehöriger.

Genaues weiß man nicht. Das scheint eine der kennzeichnendsten Eigenschaften der ambulant betreuten Pflege-Wohnformen zu sein. Selbst ihre Anzahl wird in den wenigsten Bundesländern erfasst und lässt sich nur hochrechnen aus unterschiedlichen Untersuchungen zu dem Thema. Dass ihre Zahl wächst, steht aber außer Frage.

Was Pflegewohngemeinschaften betrifft, ist der Barmer Pflegereport 2019 zu dem Ergebnis gekommen, dass es aktuell in Deutschland rund 4000 davon mit 150 000 Bewohnern geben dürfte, ohne Intensivpflege-Unterkünfte. Unter Pflege-WGs versteht man eine Gruppe von Menschen mit Pflegebedarf, die sich zusammenfinden, um ihr Leben gemeinsam zu organisieren. In der Grundidee sind solche Strukturen selbst organisiert, oft werden sie aber von Pflegeeinrichtungen initiiert und getragen. Mit steigender Tendenz, wie die Barmer Sachsen beobachtet. Dementsprechend sind manche Pflege-WGs, besonders was den Aspekt der eingeschränkten Wahl des Leistungserbringers betrifft, gar nicht viel anders einzuordnen als die geschätzte Zahl von bis zu 8000 Anlagen für betreutes Wohnen mit ihren 150 000 Bewohnern.

Leistungen, die Angehörige oft nicht abrufen

Oft fehle das Wissen, welche Leistungen es überhaupt gibt, so der ­Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, bei der Präsentation seines aktuellen Reformkonzeptes. Er will das ­bisherige „Leistungswirrwarr“ durch zwei flexible Budgets ersetzen. Denn gerade Leistungen zur Entlastung von Angehörigen würden oft nicht abgerufen. Zusätzlich zum Pflegegeld abrufbare Leistungen:
  1. Entlastungsbetrag
    Sachmittel von monatlich bis zu 125 Euro für Unterstützung im Alltag, Tages-/Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Angebote von ambulanten Pflegediensten. Zum Teil länderspezifisch!
  2. Wohnumfeldverbessernde
    Maßnahmen Zuschüsse von bis zu 4000 Euro für z.B. Türverbreiterung für Rollstuhlfahrer oder Beseitigung von Stufen
  3. Wohngruppenzuschlag
    Für Versicherte, die in einer Wohngruppe leben: 214 Euro pro WG-Bewohner für die Organisation sowie Sicherstellung der Pflege in der WG.

Keine allgemeine Meldepflicht und keine Qualitätssicherung

Diese neuen Formen des Wohnens in Unterkünften und Wohngemeinschaften unterliegen aber nicht nur keiner allgemeinen Meldepflicht. Es gibt auch keine einheitlichen Qualitätssicherungsverfahren, die Länderhoheit sorgt für Unübersichtlichkeit. Nach Aussagen der Barmer Hessen finden sich in Hessen und Sachsen auf jeden Fall die schwächsten Formulierungen, was Transparenz betrifft. So gibt es in Hessen etwa nur eine Meldepflicht für von Pflegediensten getragenen WGs. Und diese unterliegen dann noch nicht einmal einer Aufsicht. Im Barmer Pflegereport 2019 hat die Krankenkasse deswegen versucht, die Pflegequalität in den unterschiedlichen Strukturen anhand bestimmter Kriterien vergleichbar zu machen. Betrachtet wurden dabei z.B. diese Indizien (nach Risikoadjustierung):
  • 2,4 % der Bewohner von Pflegeheimen kamen wegen Erkrankungen ins Krankenhaus, die sich eigentlich ambulant sehr gut behandeln ließen (ambulant-sensitive Krankenhausfälle). Für Bewohner in Pflege-WGs gelten ähnliche Zahlen, in betreutem Wohnen traf es dagegen 3,6 % der Bewohner.
  • Bewohner in Pflege-WGs haben weniger Ärztekontakte (hausärztlich wie auch neurologisch) als solche in Pflegeheimen. Bewohner in Anlagen des Betreuten Wohnens sogar deutlich weniger.
  • Die Wahrscheinlichkeit einer Dekubitus-Neudiagnose unterscheidet sich in Pflege-WGs nicht von der in Pflegeheimen, in Betreutem Wohnen zeigt sich dagegen eine deutlich erhöhte Rate.
Im Report wird betont, dass die ambulant betreuten Wohnformen nicht bei allen Vergleichen schlechter abschneiden als das Pflegeheim. Doch selbst bei gleicher Leistung müsste die Frage gestellt werden, ob die Leistung denn im Verhältnis zu den erheblichen Mehrausgaben für die Kranken- und Pflegeversicherung steht – so der Barmer Report. Verantwortlich für die höheren Kosten der neuen Wohnformen seien ihre Möglichkeiten, Pflegesachleistungen, teilstationäre Pflege, häusliche Krankenpflege und Leistungen wie etwa Wohnumfeldverbesserung zu kumulieren – im Vergleich zu Pflegeheimen, die zwar die vollstationäre Pflege ansetzen, aber darüber hinaus nur Betreuungsleistungen.

Gestapelte Leistungen im Schnitt doppelt so teuer

Diese Kumulation ist offensichtlich so attraktiv, dass – so der Pflegereport – die Zahl der Einrichtungen, die (teil-)stationäre Pflege, Pflegedienst und betreutes Wohnen unter einem Dach anbieten, weiter steigt. Die Stapelleis­tungen Wohnen, Pflegedienst und Tagespflege könnten dann als Äquivalent zur Heimversorgung beworben werden, aber „mit doppelt so hohen Leistungsansprüchen gegenüber der Pflegeversicherung und der Krankenkasse und geringeren ordnungsrechtlichen Auflagen“.

Über Stapelleistungen maximal erreichbare Zahlbeträge bei Pflegegrad 2

Pflegestufe 2 – Beispielrechnung:
Inklusive der Betreuungsleistungen können bei Pflegegrad 2 im Pflegeheim bis zu 897 Euro abgerufen werden. Beim betreuten Wohnen mit Tages-/Nachtpflege erreichen die maximalen Leistungs-summen 1940 Euro. Die tatsächlich in 2018 abgerufenen Leistungen hierzu lagen hochgerechnet bei 1219 Euro. Pflege-WGs mit Tages-/Nachtpflege erreichen max. Leistungssummen von insgesamt 2337 Euro. Tatsächlich ausgegeben wurden dafür im Schnitt 1572 Euro. Über alle Pflegegrade hinweg liegt das maximal mögliche Leistungsvolumen bei betreutem Wohnen rund doppelt so hoch wie in der vollstationären Versorgung und bei Pflege-WGs noch einmal höher.

Quelle: Barmer Pflegereport 2019; MT-Grafik

Von außen sei oft noch nicht mal erkennbar, ob es sich um ein Pflegeheim, betreutes Wohnen, Tagespflege oder eine Pflege-WG handele. So werde hier eine Versorgung im Pflegeheim als ambulante Versorgung getarnt, um höhere Leistungen beanspruchen zu können. Für den Sozialversicherungsträger ergeben sich aus den Untersuchungsergebnissen Forderungen an die Politik, und zwar auch auf Länderebene. Die Barmer in Frankfurt fordert die Landesregierung auf, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Gesundheitssicherheit, Transparenz und Qualität zu schaffen, die andere Bundesländer bereits vereinbart haben. Sachsen wünscht sich eine kassenübergreifende Übersicht über die Angebote und deren Qualität und vor allem die Entwicklung von Qualitätsmaßstäben für trägergeführte Wohn- und Pflegeformen. Gemeinsam ist den Kassen die Forderung nach mehr Transparenz. Damit die schwarzen Schafe es nicht so leicht haben – und die Sozialversicherung weniger Ausgaben.

Quelle: Medical-Tribune-Bericht

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