Krise, Krieg & ambulante Versorgung Ambulante Versorgung im Kriegsfall: Wer rettet wen?

Gesundheitspolitik Autor: Anouschka Wasner

Im Ernstfall weniger ästhetisch: Bilder einer „Berge- und Verwundetensichtungsübung“ infolge eines angenommenen Angriffs, durchgeführt im Rahmen des Zivil-Militärischen Symposiums in Diez. Im Ernstfall weniger ästhetisch: Bilder einer „Berge- und Verwundetensichtungsübung“ infolge eines angenommenen Angriffs, durchgeführt im Rahmen des Zivil-Militärischen Symposiums in Diez. © Fotos: Anouschka Wasner

Bis zu 1.000 Schwerverletzte täglich, multiresistente Keime, Fachkräftemangel: Deutschlands ambulante Versorgung steht im Verteidigungsfall vor einer Zerreißprobe – und es fehlt an klaren Regeln.

Bis zu 1.000 Schwerverletzte täglich, die meisten mit außergewöhnlich hohem Behandlungsaufwand. Davon gehen Expertinnen und Experten im Kriegsfall aus. Wie sollen diese versorgt werden? Und wer sorgt parallel für die Versorgung der Zivilbevölkerung? Ein zivil-militärisches Symposium beschäftigte sich auch mit der Rolle der Niedergelassenen.

Lange dachte man in Deutschland, dass Krieg kein Szenario sei, auf das man sich vorbereiten müsse. Doch das hat sich geändert. „Uns treibt das Risiko eines großen Angriffskrieges in Europa um“, formulierte es Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Neben der Herstellung der eigenen Verteidigungsfähigkeit müsse auch die medizinische Versorgungsfähigkeit in Krisensituationen gestärkt werden.

Eine NATO-Simulation geht davon aus, dass in Deutschland, wenn es zur Verwundetendrehscheibe würde, täglich mit etwa 1.000 Patientinnen und Patienten zu rechnen sei. Die fünf Bundeswehrkrankenhäuser und die BG-Kliniken wären in zwei Tagen voll belegt, das militärische Personal der Bundeswehrkrankenhäuser in die Nähe der Front geordert.

Vor diesem ungeschönten Hintergrund haben die Landesärztekammern Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland sowie verschiedene Gliederungen der Bundeswehr ein zivil-militärisches Symposium in der Bundeswehrkaserne Schloss Oranienstein in Diez abgehalten. Diesjähriger Schwerpunkt: die ambulante Versorgung unter Verteidigungsbedingungen.

Anschaulich skizzierte Oberstarzt Dr. Sebastian Hentsch, Leitung des EndoProthetikZentrums am Bundeswehr Zentralkrankenhaus Koblenz, welche Herausforderungen die poststationäre Weiterversorgung beim Massenanfall von Verwundeten mit sich bringen würde. Nicht nur, dass bei 10 bis 30 % der pro Tag 1.000 Schwerverletzten eine intensivmedizinische Versorgung benötigt würde – es sei mit Blastverletzungen, Schädel-Hirn-Traumata und hohen Amputationsraten zu rechnen, in der Regel in Kombination mit Verbrennungen. Diese Verletzungen gehen meist mit posttraumatischen Belastungsstörungen einher und benötigen mehrere Entitäten zur Versorgung sowie lange Phasen der Rehabilitation, unterbrochen von immer wieder neuen Eingriffen.

Weiter verschärfen würde sich die medizinische Herausforderung durch die hohe Zahl mulitresistenter Keime der sogenannten „politischen Patienten“. Bei einem 27-jährigen Mann aus der Ukraine, der in einem Klinikum über 14 Monate hinweg 23-mal behandelt werden musste, habe der Anteil der multiresistenten Keime bei 87,5 % gelegen. Davon ließen sich 41,7 % als Acinobacter identifizieren, die gegen jedes Antibiotika resistent sind. Bei diesem Patienten lagen die täglichen Kosten für die Behandlung letztlich bei 7.500 Euro.

Es fehlen Fachkräfte, Betten und Rehaplätze

Woran es der poststationären Versorgung aus heutiger Sicht im Ernstfall mangeln würde, so der Experte, seien Krankenhausbetten, Fachkräfte für kriegsspezifische Verletzungen und Kapazitäten in der Reha-Versorgung. Eine Diskussion zu Priorisierung und Rationierung sei in unserem Land bisher nicht wirklich notwendig gewesen. Im Verteidigungsfall werde man der nicht mehr ausweichen können, so Dr. Hentsch.

Von Priorisierung sprach dann auch KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister. Aktuell leisten die Vertragspraxen im Jahr annähernd eine Milliarde Kontakte, 20 Millionen Notfälle, 5 Millionen ambulante Operationen und 60 Millionen Vorsorgeuntersuchungen listete er auf. In Krisen- und Kriegszeiten sei dieser Bedarf natürlich weiterhin vorhanden. „Wir müssen also spätestens jetzt darüber sprechen: Was muss im Ernstfall abgeschichtet werden“, so Dr. Hofmeister. Entsprechend brauche man definierte Leistungskürzungen und Rechtssicherheit für ärztliches Handeln außerhalb der Regelversorgung.

Das SGB V, zuständig für die ambulante Versorgung, enthalte keinerlei Aussagen zur Rolle der Praxen im Krisenfall. Die Coronakrise habe aber gezeigt, dass die ambulante Versorgung in Krisen gut und schnell reagieren kann: Die Impfzahlen seien in dem Moment hochgeschnellt, als man die Praxen mit Impfstoff versorgt habe. Das System sei dezentral, aber extrem resilient und sehr leistungsfähig. Am Beispiel der Ukraine sehe man gerade sehr gut, dass eine medizinische Zentralisierung ausgesprochen anfällig ist für Attacken.

Im Krisenfall müsse es Priorität sein, die Struktur und Funktionalität der ambulanten Versorgung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, so Dr. Hofmeister: „Es gibt keine innere Resilienz, wenn die Versorgung der Bevölkerung kollabiert. Niemand zieht in den Krieg, wenn das Kind kein Insulin mehr kriegt.“

Doch natürlich könne man im System auch priorisieren. So mussten während der Coronakrise etwa die Vorsorgeuntersuchungen pausieren. Dafür mussten Rechte, die den Bürgerinnen und Bürgern zustehen, für eine Zeit ausgesetzt werden. Diese Dinge seien vorzubereiten – aber lösbar, so Dr. Hofmeister.

Echtzeitüberblick zur Versorgungslage wichtig

Eine Lösung brauche es auch, um Daten aus dem Bundesarztregister, der Ärztestatistik der Landesärztekammer und der KV-Systemdaten zusammenzuführen. Benötigt würden außerdem Informationen zu nichtärztlichem Personal bzw. im Ernstfall zu Flüchtlingsströmen und Versorgungskapazitäten. Mit den entsprechenden datenschutzrechtlich-technischen Möglichkeiten könne man sich dann einen Echtzeitüberblick zur Versorgungslage verschaffen: Wo gibt es Feindbewegungen? Wann ist eine Region gefährdet? Was machen Flüchtlinge, die dorthin kommen? Auf diesem Weg bekomme man die nötige Vorlaufzeit, um Praxen vor Ort zu räumen und zu überlegen, wo das Personal weiter eingesetzt werden kann. All das müsse man planen. „Wir können die Verantwortung nicht beim kleinsten Rädchen lassen, nämlich bei der Kollegin und dem Kollegen vor Ort, die dann rätseln dürfen, ob sie das so oder so machen und hinterher dafür in Teufels Küche kommen“, so Dr. Hofmeister. Deswegen müsse diese Frage in einem absolut dringend zu schaffenden Vorsorge- und Gesundheitssicherstellungsgesetz behandelt werden. Ein Gesetz, „das wir seit Jahren diskutieren – das aber nicht vorangebracht wird. Es ist höchst überfällig!“, so Dr. Hofmeister.

Für die KVen als Körperschaften des öffentlichen Rechts ist der gesetzliche Auftrag grundsätzliche Bedingung. Dr. Hofmeister: „Die KVen müssen eingebunden werden in die zivil-militärische Zusammenarbeit, formal wie strukturell.“

Die Telematikinfrastruktur ist im Ernstfall übrigens wenig hilfreich. Selbst in Friedenszeiten performe sie so, dass man „im Schnitt 14 Tage Komplettausfall im Jahr“ habe, so Dr. Hofmeister. Krise und Krieg könne das System erst recht nicht – das hätten zuletzt die 60 Stunden Stromausfall in Berlin gezeigt, in denen keine Versorgung mehr stattfand.

Finanziell sei das, was man für eine lagebildende Kommunikation brauche, in einem relativ moderaten Rahmen möglich. Die eigentliche Vorsorge für den Verteidigungsfall, wie etwa Bevorratung, Strom- und Wasserversorgung etc., sei da aber noch gar nicht beinhaltet. Doch unabhängig davon, ob es um Kommunikation, Bevorratung oder wie in anderen Expertenbeiträgen vorgetragen die Medikamenteversorgung oder die poststationäre Weiterversorgung im Verteidigungsfall geht – hier wie dort scheint ein Zitat von Dr. Hofmeister treffend zu sein: „Da gibt es eine Menge zu regeln, und das mit höchster Dringlichkeit. Wir haben keine Zeit mehr zu warten.“

Quelle: Medical-Tribune-Bericht