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Arzt statt Forscher – nein, ich habe nichts versäumt

Autor: Dr. Robert Oberpeilsteiner

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Bringt die Forschung dem praktischen Arzt mehr Zufriedenheit? Dr. Robert Oberpeilsteiner erklärt, warum die meiste Wissenschaft eigentlich in der Praxis stattfindet.

Gelegentlich, in melancholischen Phasen, lasse ich meine Hausarztkarriere Revue passieren. Karriere? Na, ja. Eher beschleicht mich dann das Gefühl, ich könnte etwas versäumt haben.


Hätte ich mich damals, als ich noch jung war, nicht doch für die Klinik entscheiden sollen? Richtig große Bühne wäre das gewesen, statt des täglichen Bauerntheaters der letzten hundert Jahre. Oder, vielleicht noch besser, wenn man in die Forschung abgewandert wäre. Dort spielen doch heutzutage die großen Orchester! Ebola-Medikamente. Malariaimpfstoff. Gentherapie.

»Mehr Wissenschaft als in der Praxis
 geht doch fast nicht«

Schließlich gibt es größere Herausforderungen, als im Altersheim Blutdruck zu messen. Vielleicht hätte ich sogar die Chance bekommen, mich in Saudi-Arabien mit einer Herde Kamele anzufreunden, um einen Impfstoff gegen MERS zu entwickeln? Und selbst wenn dieser Traum nicht in Erfüllung gegangen wäre – ich könnte immer noch den dreihundertsten Lipidsenker für unsere Überflussgesellschaft entwickeln. (Nietzsche wusste schon, warum er sich über die fröhliche Wissenschaft den Kopf zerbrach.) Wäre das alles nicht viel befriedigender, als sich jetzt als tumbes Vollzugsorgan von Wissenschaft und Gesundheitswesen abzustrampeln? Fragen über Fragen.


Aber, doucement! Wer ein wenig die Augen offenhält und die Ohren spitzt, erlebt auch im Praxisalltag täglich Wissenschaft pur. Anders als so manche Resultate aus den Elfenbeintürmen sind diese jedoch praxis- und die Konsequenzen hautnah. Wir niedergelassene Ärzte können uns daher, bitte schön, durchaus als Lackmuspapier für ein gesundes Überleben der Menschheit bezeichnen.


Etwas weniger dick aufgetragen: Wir in der Praxis bemerken es als erste, wenn sich Erkrankungen häufen, wenn die Grippewelle anrollt. Oder wenn Atemwegserkrankungen oder Burn-out zunehmen, seitdem ein neuer Industriebetrieb auf die grüne Wiese gepflanzt wurde. An großen Chemiestandorten oder in der Nähe von Atomkraftwerken sind es ohnehin die niedergelassenen Ärzte, deren Aussage am meisten zählt. Zumindest für ihre Patienten. Die kommen zuallererst zu ihnen, wenn sich Ungereimtheiten häufen. Liebe Kollegen, mehr Wissenschaft geht fast nicht.

»Empfehlungen wechseln so häufig wie das Wetter«

Außerdem traut staatlichen Ergebnissen oder firmeninternen Untersuchungen halt nicht jeder. Ich erinnere mich noch gut an das Unglück von Tschernobyl. Die bay­erischen Behörden verschwiegen damals lange die Ergebnisse des Fallouts. Ein Anruf – ich war damals Assistenzarzt im Krankenhaus – beim hiesigen Gesundheitsamt ergab, dass wir hier „um Potenzen über den bisher bekannten und veröffentlichten Zahlen lagen“. Die Kollegin sagte mir das hinter vorgehaltener Hand. Eigentlich ein Skandal, der zeigt, wie aufmerksam wir Ärzte als Gesundheitspolizei vor Ort sein sollen.


Wenn jetzt, knapp dreißig Jahre nach der Katastrophe, bayerische und thüringische Wildschweine immer noch strahlen wie Christbäume bei der Weihnachtsfeier, so braucht uns dies nicht mehr allzu sehr zu beunruhigen. Die Wildschweine übrigens auch nicht. Erstens zählt Wildschweinbraten schließlich nicht zu den Grundnahrungsmitteln. Und den Viechern kann es wurscht sein, die sind eh schon tot. Doch es ist ein weiterer Indikator dafür, dass wir uns nicht einschläfern lassen sollen, wenn das öffentliche Interesse von einem Tatort zum andern abgewandert ist.


Wissbegierige und interessierte Kollegen haben ohnehin schon in Vorcomputerzeiten ihre eigenen Statistiken geführt. Zum Teil aus wissenschaftlicher Neugier, zum Teil um Therapien zu überprüfen. So kam wohl so mancher zur Akupunktur. Denn wenn damit bei der Frau Huber das Kreuzweh verschwindet, so hat dies mehr Überzeugungskraft als Metaanalysen. Glückshormone hin, Placebo-Effekt her.


Ich beruhige daher mein leitliniengequältes Gewissen damit, dass Empfehlungen so häufig wechseln, wie bei uns das Sommerwetter. In den USA hatte man erst kürzlich – wie in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war – die Vollmilch für das Schulessen gestrichen. Gleichzeitig wurde fettarme, aber gesüßte Milch gelobt. Jetzt kommt die Kehrtwende. Amerikanische Wissenschaftler fordern im Fachmagazin Jama, dass es keine Obergrenze mehr für Fett in den Ernährungsrichtlinien geben soll. Das heißt, wir sind da wieder am Punkt null. Keine komplizierten Diäten, keine Verbote mehr. Sondern von allem ein bisserl was. Fett, Zucker, Alkohol, egal. Grad schön ist’s.


Dabei hat meine Großmutter das schon immer gewusst. Einschließlich des Schnapserls nach dem Essen. Das war schließlich nur für die Gesundheit! Na endlich. Es gibt ein unheimlich gutes Gefühl, wenn eigene Erfahrung und Wissenschaft übereinstimmen.

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