Praxiskolumne Chronisch überzeugt – können wir gegenhalten?

Kolumnen Autor: Franziska Hegedüs

Von Kopfschmerzen über Müdigkeit – wann handelt es sich um Langzeitfolgen einer Lyme-Borreliose und wann nicht? Von Kopfschmerzen über Müdigkeit – wann handelt es sich um Langzeitfolgen einer Lyme-Borreliose und wann nicht? © diy13– stock.adobe.com

Sommerliche Temperaturen, die Zeckensaison ist in vollem Gange, die Zahlen von Lyme-Borreliose und FSME steigen. Man könnte meinen, es wurde alles dazu gesagt, es gibt klare Evidenz für Prävention, Diagnostik und Therapie. Doch da sind sie wieder: das „Post-Borreliose-Syndrom“ und die „chronische Lyme-Borreliose“. Quasi jedes Symptom, von Kopfschmerzen über Müdigkeit bis zu Schmerzen jeder Art, lässt sich irgendwie damit in Verbindung bringen. Und hier beginnt das Geschäft mit nicht evidenzbasierter Diagnostik und Heilversprechen.  

Natürlich gibt es Fälle von Langzeitfolgen einer Lyme-Borreliose. Aber das sind Komplikationen einer lang andauernden Lyme-Borrelieninfektion, die zu spät erkannt und behandelt wurden. Dann spricht man allerdings von postinfektiösen Beschwerden oder Residuen der behandelten Akuterkrankung. Doch die Annahme der sogenannten „Fachkreise“, die sich auf diese Phänomene berufen, ist, dass die evidenzbasierte Medizin mit ihrer Diagnostik einfach nur zu ungenau sei, deswegen Infektionen übersehe und die herkömmlichen Antibiotika-Regimes außerdem unzureichend funktionierten.

Wieder einmal ins Bewusstsein gerückt ist mir das Thema, als neulich ein Neupatient vor mir stand und mir als chronische Erkrankung seine Borreliose nannte. Bis er zu dieser Diagnose gekommen war, musste er einen langen Leidensweg beschreiten, erzählte er. Niemand habe ihm geglaubt, geschweige denn sich die Mühe einer Diagnostik und Therapie gemacht.

Erst in einer Spezialpraxis konnte man ihm endlich sagen, was bei ihm Sache ist. Und dort wurde dann auch etwas unternommen: Eine spezielle Antikörperbestimmung sicherte die Diagnose „chronische aktive Borreliose“. Und eine Antibiotikakombination über anderthalb Monate sollte kurieren. Für beide dieser Ansätze gibt es allerdings keinerlei Evidenz. Außerdem sollte der Patient ACC, Silymarin und natürlich Probiotika einnehmen. Ich sag mal: Schadet nicht und eine gestärkte Infektabwehr und ein gesunder Darm sind immer gut – die Verbindung zur Lyme-Borreliose muss man allerdings erstmal finden. Dann folgten zahlreiche weitere Ratschläge, von Saunabesuchen bis hin zu Ernährungshinweisen. Aber die sind schließlich auch nie verkehrt.

Diese Geschichte ist meines Erachtens ein schönes Beispiel dafür, wie unsere Patientinnen und Patienten aus Unzufriedenheit mit den Erklärungen der evidenzbasierten Medizin „neue Wahrheiten“ suchen – und finden. Denn es gibt sie, die Heilkundler, die vermeintliche Hilfe anbieten bzw. wenigstens Hoffnung darauf. Dort fühlt man sich gesehen.

Bei wenigen Erkrankungen gibt es ein so ausgereiftes Netz der Alternativmedizin wie bei Borreliose. Unzählige Arztpraxen, Laienforen und Selbsthilfegruppen fühlen sich berufen, sich damit zu beschäftigen. Es gibt alternative Leitlinien wie die der Deutschen Borreliose-Gesellschaft und Handlungsempfehlungen der International Lyme and Associated Diseases Society – siehe die Empfehlungen an den Patienten oben. Überzeugen kann, wer etwas „tut“. Das beginnt mit Laborwerten, die eine scheinbare Diagnose bestätigen, und mündet in angeblich individuellen Empfehlungen zu einem doch allgemein bekannten gesunden Lebensstil.

Aber ich verstehe unsere Patientinnen und Patienten auch. Selbst Ärztinnen und Ärzte sind sich uneinig, weichen manchmal ab von wissenschaftlich fundierten Behandlungen, orientieren sich an anekdotischen Einzelerfolgen – getrieben von Patientenunzufriedenheit und schließlich auch von der eigenen. Warum soll der Patient dem Arzt oder der Ärztin Gehör schenken, wenn diese doch nichts anzubieten haben außer Geduld, Aufklärung und eine gewissen Symptomlinderung? Ich hatte nur gehofft, dass mit der Coronapandemie mehr Verständnis für das keineswegs neue Phänomen der postinfektiösen Syndrome aufkommt. Doch die chronische Lyme-Borreliose ist unverändert Thema.

Und mein Patient? Weder die „Diagnose“ noch das „Tun“ haben etwas an seinen Beschwerden verändert. Was bleibt, ist der Glaube an die Last einer schweren Erkrankung und genaue Vorstellungen davon, wie Mediziner und Medizinerinnen ihn zu behandeln haben. Denn er „weiß“ ja, was er hat – und dieser Glaube wiegt schwer. Es wird sich zeigen, ob evidenzbasierte Empfehlungen zwischen all den vielen Versprechen wieder Gehör finden können.

Ihre 
Franziska Hegedüs