Hausärztliche Intuition Das Hirn einschalten, wenn der Bauch sich meldet

Gesundheitspolitik Autor: Thomas Kühlein

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Hausärzte müssen jeden Tag Entscheidungen treffen. Meist tun sie dies auf der Basis von diagnostischen Daten. Doch oft hören Allgemeinärzte auch auf ihr Bauchgefühl, also ihre Erfahrung. Aber können Hausärzte ihrem Bauchgefühl wirklich vertrauen oder verleitet es dazu, andere wichtige Informationen auszublenden? Prof. Thomas Kühlein vom Allgemeinmedizinischen Institut der Universität Erlangen-Nürnberg befasst sich mit der Frage, wie verlässlich die innere Stimme ist und wie sie sich in der täglichen Praxis richtig nutzen lässt.

Das Bauchgefühl ist das Gegenteil des ausgebildeten, informierten und wachen Verstandes. Seit der Aufklärung sind dieser Verstand und die aus diesem Verstand geborene Vernunft das Maß, an dem sich Entscheidungen zu messen haben.

Vom schnellen und langsamen Denken

Der Kognitionspsychologe Daniel Kahneman teilt unser Denken in ein schnelles und ein langsames Denken ein [1]. Das langsame Denken ist das bewusste, abwägende, kalkulierende Denken. Es ist wohl das Beste, was wir haben, aber es ist anstrengend, ja beinahe schmerzhaft. Auch ist nicht gesagt, dass es immer die richtige Entscheidung findet, schon gar nicht, wenn nicht alle Faktoren bekannt sind, die für die richtige Entscheidung nötig wären. Das schnelle Denken dagegen geht leicht von der Hand. Viele Entscheidungen auf Basis des schnellen Denkens scheinen eher aus dem Bauch, jedenfalls nicht aus dem Kopf zu kommen. Dieses Denken ist zwar schnell, aber auch leicht täuschbar. Das langsame Denken sollte eigentlich das schnelle Denken überwachen, aber das langsame Denken ist faul. So machen wir viele Fehler, deren Folgen wir ja dann immer noch ignorieren oder uns schönreden können.

Gerd Gigerenzer hat eine etwas positivere Meinung vom schnellen Denken, das er heuristisch nennt [2]. Eine Heuristik ist eine oft unbewusste Entscheidungsregel, die in erfreulich vielen Fällen nicht nur leichter fällt, sondern auch noch besser zum richtigen Ergebnis führt als ein aufwendiger Informationssammlungs- und Abwägungsprozess. Nach Michael Polanyi wissen wir deutlich mehr, als wir sagen können [3]. Als Beispiel nennt er unsere Unfähigkeit, erklären zu können, woran wir ein uns bekanntes Gesicht wiedererkennen. Wir erkennen diese komplexe Gestalt eben.

Denken und Handeln

Ich möchte hier vereinfachend drei Ebenen unseres Denkens und Handelns postulieren und versuchen, sie in einen Zusammenhang mit unserem (haus)ärztlichen Alltag zu bringen.

  1. Das bewusste Denken
  2. Das Handeln nach Routinen
  3. Das Bauchgefühl

Das bewusste Denken: In der Medizin wurden wir sozialisiert, in der richtigen Funktion des Menschen (Anatomie, Physiologie, Biochemie) und in ihren Abweichungen (Pathologie, Pathophysiologie, Pathobiochemie) zu denken. Dieses Wissen hat die Medizin weit vorangebracht. Mitte der 1990er entwickelte sich eine andere Form medizinischen Denkens, die Evidenzbasierte Medizin. Evidenz meint ursprünglich Beweis oder Beleg im juristischen Sinn. Im Gegensatz zum mathematischen Beweis führt die Evidenz keineswegs zum Ende aller Diskussion. Evidenz fragt nicht, warum etwas passiert, sondern ob es passiert (Outcome). Dieser Outcome wird in Studien empirisch untersucht. Die berühmteste Form ist die randomisierte, kontrollierte Doppelblind-Studie (RCT). Bei RCTs stellt sich häufig heraus, dass vieles von dem, was wir aufgrund pathophysiologischer Überlegungen annehmen, leider nicht oder in viel kleinerem Ausmaß passiert. Ein Beispiel ist die genaue Kenntnis des Wirkmechanismus des Antidementivums Memantine am N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptor im Vergleich zu seinem winzigen Therapieeffekt im entsprechenden RCT. Der Effekt entspricht einer Verbesserung von 2,1 Punkten auf einer 54-Punkte-Skala für Aktivitäten des täglichen Lebens [4]. Ob dieser Effekt relevant ist, lässt sich nur im individuellen Fall entscheiden.

Wissen und seine Relevanz

Sich die Grundlagen für informierte Entscheidungen zu erarbeiten ist mühsam. Man muss lernen, Studien zu finden, und sie kritisch lesen. Am Ende muss man entscheiden, was dieses Wissen für unseren konkreten Patienten bedeutet. Ein winziger Therapieeffekt wäre für einen hochbetagten Patienten mit Multimorbidität und geringer Lebensqualität mit großer Sicherheit sinnlos. Für eine relativ junge Patientin wäre vielleicht auch ein kleiner Effekt ein Hoffnungsschimmer. Wie aber entscheiden wir in den vielen Fällen zwischen diesen beiden? Entscheidungen zur Relevanz sind in den meisten Fällen subjektive oder eben Bauchentscheidungen. Studien konnten zeigen, dass Spezialisten viel kleinere Effekte für relevant halten als Hausärzte oder gar medizinische Laien [5]. Evidenzbasierte Leitlinien sind das Kondensat eines langsamen und aufwendigen Denk- und Verhandlungsprozesses. Sie können Entscheidungen im Regelfall empfehlen, sie aber nicht im Einzelfall treffen.

Das Handeln nach Routinen dürfte den größten Teil unserer Arbeit beschreiben. Wir handeln nicht nur so, weil wir immer so handeln, sondern auch, weil die anderen so handeln. Dieser kollektiven inneren Leitlinie entspricht die offizielle Leitlinie der Fachgesellschaft [6].

Das Bauchgefühl ist eine Art Alarmgefühl, dass etwas nicht stimmt. In einer Studie in England wurden Ärzte befragt, die Kinder mit akuter bakterieller Meningitis rechtzeitig eingewiesen hatten [7]. Die Meningitis ist zu selten, um Erfahrung damit zu haben. Die Ärzte hatten auf Basis eines Bauchgefühls reagiert, waren aber im Nachhinein sehr wohl in der Lage, die Auslöser für dieses Bauchgefühl zu benennen. Oft schien sich das Bauchgefühl im Sinne einer ungewöhnlichen Unruhe der Eltern der Kinder auf die Ärzte übertragen zu haben. Die Ärzte konnten im Nachhinein aber auch ungewöhnliche klinische Zeichen der kranken Kinder beschreiben, die ihre Entscheidung beeinflusst hatten. Es schien nichts Magisches vom Bauchgefühl übrig zu bleiben. Am ehesten entsprach das Erkennen des Notfalls wohl dem Gestalterkennen Polanyis.

Was ist normal?

Stolper et al. stellen zwei Bauchgefühle gegenüber: Das Gefühl "hier stimmt etwas nicht" und das Gefühl von Sicherheit im Sinne eines "alles in Ordnung" [8]. Die "Ordnung" oder das "Normale" in der Medizin hat eine große Streubreite und es wäre vorstellbar, dass erfahrene Ärzte ein sichereres Gefühl für das Normale haben. Es ist allerdings auch vorstellbar, dass erfahrenen Ärzten bei der Wahrnehmung von Bauchgefühlen ihre über die Jahre fest eingefahrenen Routinen im Weg stehen. Es werden vermutlich deutlich mehr nutzlose Antibiotika aufgrund falscher Routinen verschrieben als aufgrund berechtigter Bauchgefühle.

Leitlinien setzen Standards

Die Routinen werden sicher weiterhin im Zentrum des Handelns stehen. Umso wichtiger wird es sein, innere und äußere Leitlinien miteinander abzugleichen. Dazu ist es nötig, den Sinn und die Machart von Leitlinien zu verstehen, um sie akzeptieren zu können. Der beste Arzt ist keineswegs derjenige, der eine Leitlinie benutzt wie das neue Richtschwert der Schulmedizin, um alle Patienten gleich lang abzuschneiden. Dennoch kann man eine Leitlinie sehr wohl als eine Art Standard verstehen. Es gibt jedoch keinen theoretischen Standard, der nicht einen Anpassungsprozess an die lokalen und individuellen Gegebenheiten erfordern würde [9]. Die Kunst des Arztes liegt in der bestmöglichen Anpassung und Anwendung des besten Wissens unserer Zeit auf den vor ihm liegenden Fall. Die Kunst liegt in der gekonnten Abweichung vom Standard. Diese Abweichung kann auch durch ein Bauchgefühl ausgelöst werden. Es ist ganz bestimmt wichtig, auf seine Bauchgefühle zu achten, und es wird viele Situationen geben, in denen man eine Bauchentscheidung treffen muss. Wenn aber die Möglichkeit besteht, sollte man das Bauchgefühl als Anreiz verstehen, sein Gehirn einzuschalten.

Was einen guten Arzt ausmacht

Bleibt noch eines zu sagen: Ob wir gute Ärzte sind, hängt nicht nur vom Wissen, sondern vor allem vom Handeln ab. Ob unser Handeln richtig war, lässt sich am besten an seinem Ergebnis ablesen. Das ist leider nur schwer möglich. Es ist dagegen leichter möglich, Versorgungsprozesse zu beschreiben. Wir sollten beginnen, die Frage zu stellen: "Wie versorge ich eigentlich meine Patienten mit …?" [10]. Ein Beispiel wäre die Frage, wie versorge ich eigentlich meine Patienten mit Zustand nach Myokardinfarkt. Diese Patienten sollten alle einen Betablocker, ASS 100 und ein Statin erhalten. Haben sie es nicht, darf es daran liegen, dass sie es nicht wollten, nicht vertragen, Kontraindikationen bestehen oder sie so hochbetagt und multimorbide sind, dass jegliche Prävention sinnlos wird. Es sollte nicht daran liegen, dass wir vergessen haben, zu entscheiden. Die Frage, wie viele unserer Patienten nach Myokardinfarkt tatsächlich alle drei Medikamente haben, können wir nicht beantworten, obwohl unsere Computer alle dazu nötige Information enthalten. Unsere Praxisverwaltungssysteme können es nicht, weil wir die Frage nicht stellen. Bauchgefühle können uns warnen und können uns helfen, gute und richtige Entscheidungen zu treffen. Sie helfen uns leider nicht, Entscheidungen zu vergessen.

Literatur
1. Kahneman D, Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler Verlag, München 2012
2. Gigerenzer G, Bauchentscheidungen - Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Wilhelm Goldmann Verlag, München 2008
3. Polanyi M. Implizites Wissen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1985
4. Reisberg B, Doody R, Stöffler A, et al. for the Memantine Study Group. Memantine in moderate-to-severe Alzheimer’s disease. N Engl J med 2003:348:1333-1341
5. Steel N. Thresholds for taking antihypertensive drugs in different professional and lay groups: questionnaire study. BMJ 2000;320:1446-1447
6. Gabbay J, le May A. Evidence based guidelines or collectively constructed "mindlines?" Ethnographic study of knowledge management in primary care. BMJ 2004:329:1013
7. Van den Bruel A, Thompson M, Buntinx F, Mant D. Clinicians’ gut feeling about serious infections in children: observational study. BMJ 2012;345:e6144
8. Stolper E, Van Royen P, Van de Wiel M, et al. Consensus on gut feelings in general practice. BMC Family Practice 2009;10:66
9. Mol A, Moser I, Pols J (Hrsg.). Care in practice. On tinkering in clinics homes and farms. Transcript Verlag, Bielefeld 2010
10. Kuehlein T, Carvalho A, Viegas Dias C et al. How Do I Care for My Patients with…? Journal of Health Science 2015;3:141-147


Autor:
Universitätsklinikum Erlangen, Allgemeinmedizinisches Institut
91054 Erlangen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (9) Seite 34-37
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.