Bürokratie Der Formularflut Einhalt gebieten

Gesundheitspolitik Autor: Theresia Lautenschläger

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Ein Monster geht um in deutschen Praxen, klagen die Ärzte. Es ist die schier unersättliche Bürokratie. Mit immer neuen Verwaltungs-, Dokumentations- und Nachweispflichten schiebt es sich zwischen Arzt und Patienten. Dieses Bürokratie-Monster stiehlt dem Arzt Zeit, schränkt seine Behandlungsfreiheit ein und vergällt seine Freude an der Arbeit. Mehr noch: Dieses Monster wächst ohne Unterlass, beklagt Dr. Theresia Lautenschlager und fordert neue "Spielregeln".

Es handelt sich um gar kein Monster, entgegnen Krankenkassen und Gesundheitspolitiker. Vielmehr um eine Lichtgestalt mit visionärem Auftrag. Sie soll das Behandlungsgeschehen in all seinen Facetten ausleuchten, endlich einmal. Und zwar gründlich, systematisch und standardisiert, auf dass es möglich werde, den Einzelfall und zugleich das Gesamtsystem wirksam zu steuern. Diese unterschiedlichen Deutungen sind Ausdruck unterschiedlicher Erlebenswelten und unterschiedlicher Interessen. Beide Seiten tragen sie einander bei vielen Gelegenheiten vor. Von einer gemeinsamen Deutung der obskuren Erscheinung sind sie weit entfernt. Ergebnisse gibt es trotzdem. Die gute Nachricht: Die "Lichtgestalt" sichert Arbeit für Forscher und Bürokraten auf lange Sicht. Die schlechte Nachricht: Das "Bürokratie-Monster" macht die Patienten nicht gesünder, die Ärzte nicht zufriedener und die Versorgung nicht billiger. Insgesamt haben beide Befunde die Kraft, unser Gesundheitssystem erfolgreich zu paralysieren.

Schneckentempo mit hohem Aufwand

Zu den Eigenheiten des bürokratischen Gangs gehört das Kopfschütteln, das dieser auslöst: Die Bekämpfung bürokratischen Aufwandes verursacht nämlich einen zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Dieser Aufwand ist umso größer, je weiter der Verursacher des Problems vom Leidtragenden des Aufwandes entfernt ist. Was mühelos "von oben herab" kam, muss mühsam wieder Stufe für Stufe nach oben befördert werden, wenn eine Entscheidung sich als falsch erweist. Ein unsägliches Verfahren, wie die sogenannte "Praxisgebühr" lehrt, die 2003 trotz vieler Warnungen der Vertragsärzte vor dem bürokratischen Mehraufwand eingeführt und dann nach 9 Jahren 2013 wieder abgeschafft wurde. Welch ein Aufwand für die Korrektur einer politischen Fehlentscheidung!

Halten wir als Befund fest: Das Schneckentempo ist ein Bruder des hohen Aufwands. Beide sind verlässliche Stützen des bürokratischen Gangs. Diese spezifische Gangart ermöglicht es, mit großem Eifer auf der Stelle zu laufen, wie Hamster im Rad.

Kontrollwahn der Krankenkassen

Patienten sind individueller und das Leben ist komplexer als jedes Formular. Diese Erkenntnis gehört zu den allgemeinen Lebenserfahrungen. Im Gesundheitssektor wird sie ignoriert. Die finanziellen und politischen Akteure unseres Gesundheitssystems kennen Patienten und ihre Bedürfnisse nicht aus dem direkten Kontakt, sondern nur aus ihrer "Papierform". Natürlich ahnen sie, dass zwischen der Realität selbst und ihrer Beschreibung ein Unterschied besteht, schließlich ist ja auch die Speisekarte nicht die Mahlzeit selbst. Vielleicht liegt in diesem Unterschied ein tieferer Grund für die überbordende Bürokratie.

Jedenfalls entwickeln die großen Akteure Hunderte von Anforderungen, mit denen sie das "Behandlungsgeschehen" ausleuchten. Im ambulanten medizinischen Sektor treffen sie mit ihren schier unstillbaren Kontrollbedürfnissen durchweg auf Kleinstbetriebe, in denen die ca. 150.000 Vertragsärzte und Psychotherapeuten ihre Patienten mit deren individuellen Bedürfnissen betreuen.

Diese doppelte Asymmetrie ist eine Quelle fortwährender Ärgernisse. "Die Bürokraten" haben nur eine rudimentäre Kenntnis der Patientenbedürfnisse und des Praxisalltags. Zugleich haben die finanziellen und politischen Akteure die Macht, die "Leistungserbringer" zu reglementieren und zu bedrohen. Allein was die gesetzlichen oder vertraglichen Informationspflichten anbelangt, müssen die Vertragsärzte und Psychotherapeuten 281 Anforderungen beachten, hat die KV Westfalen-Lippe gemeinsam mit dem Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG ermittelt. Die Erfüllung dieser Informationspflichten verursacht in Westfalen-Lippe jährliche Bürokratiekosten von 160 Millionen Euro. Hochgerechnet für ganz Deutschland entspricht das ca. 1,6 Milliarden Euro. Das sind gut 10.000 Euro pro Vertragsarzt und Psychotherapeut im Jahr.

Dieser bürokratische Sumpf hat unmittelbare rechtliche und finanzielle Konsequenzen. Bei Nichtbeachtung oder bei fehlerhafter Befolgung der vielfältigen und ständig sich ändernden Vorschriften drohen Regresse und andere Strafen. Zugleich gibt es keine "Stelle" und kein "Organ", das die Vertragsärzte und Psychotherapeuten vor dieser permanenten Bedrohung wirksam schützt. Der weitere Befund lautet daher: Das Komplexitätsrisiko geht allein zu Lasten der Leistungserbringer.

Raus aus der Komplexitätsfalle

Von Einstein wissen wir, dass man Probleme nicht mit denselben Denkweisen lösen kann, die zu ihnen geführt haben. Mit "einfach weiter so" wird aus dem Bürokratie-Monster nie eine Lichtgestalt. Wir müssen das Gesundheitssystem aus der Komplexitätsfalle befreien, um es zukunftsfest zu machen. Dazu brauchen wir neue "Spielregeln", nach denen die Beteiligten ihr Miteinander organisieren.

Es ist weder erkennbar noch anzunehmen, dass die politischen Entscheidungsträger solche Transformationsprozesse in Gang setzen. Auch von den Krankenkassen oder den Organen der Selbstverwaltung gibt es bisher keine ermutigenden Zeichen. Vielleicht fehlt der Wille dazu, möglicherweise mag auch keiner an dem Ast sägen, auf dem er doch recht bequem sitzt. Deshalb schlage ich ein paar Regeln vor, die bei konsequenter Beachtung das Spiel verändern könnten. Ich unterbreite damit Vorschläge, die zum Nachdenken anregen und das Vordenken fördern. Es geht dabei um wesentlich mehr als nur unglücklich gestaltete Formulare.

Wem gehört das Problem eigentlich?

Das ist eine Schlüsselfrage. Sie klärt zugleich, wer die Verantwortung für die Lösung trägt. Meiner Meinung nach ist das derjenige, der das Problem hat. Bei der Praxisgebühr waren das nicht die Ärzte, sondern die Kassen. Die Schlüsselfrage bringt auch Klarheit in den Streit um den eingeforderten Stammdatenabgleich bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK). Eigentlich wäre es Aufgabe der Krankenkassen sicherzustellen, dass die personenbezogenen Daten der eGK aktuell sind, sagt der Gesetzgeber. Tatsächlich erfüllen die Krankenkassen ihre Aufgabe nur sehr unzuverlässig, etwa weil ihre Versicherten ihnen Veränderungen nicht zeitnah berichten. Auch hier gilt: Die Krankenkassen dürfen ihre Verpflichtungen nicht einfach uns Ärzten aufbürden. Sie haben es aber trotzdem getan. Dieser Coup konnte ihnen nur unter aktiver Mitwirkung der KBV und der Bundesärztekammer gelingen, die ja bekanntlich Mitgesellschafter der gematik ist. Ganz offensichtlich sind die Interessen der Selbstverwaltung nicht deckungsgleich mit den Interessen von uns Vertragsärzten und Vertragspsychotherapeuten. Wir hatten uns mehrheitlich bei vielen Gelegenheiten explizit dagegen ausgesprochen, die Verantwortung für den Stammdatenausgleich zu übernehmen. Unsere "Interessenvertretung" hat sich darum nicht gekümmert. Das Stammdatenmanagement soll ab 1. Juli 2016 flächendeckend eingeführt werden. Wer unter den Ärzten nicht mitmacht, muss Strafe zahlen. Dieses Muster wird gelten, solange wir es uns bieten lassen und auf eine wirkungsvolle Interessenvertretung verzichten.

Wer bestellt, bezahlt

Dieses Prinzip gilt auch für andere Fälle. Wenn die Krankenkassen uns Vertragsärzten nicht zutrauen, verantwortlich mit der Verordnung etwa häuslicher Pflegebedürftigkeit oder eines Krankentransportes umzugehen, mögen sie ihre eigenen Verwaltungsfachkräfte das erledigen lassen – zeitnah, vor Ort und im direkten Kontakt mit dem Patienten. Wir werden die Folgen mit Interesse besichtigen.

Es geht nicht an, dass die Krankenkassen Filialen schließen und Personal reduzieren, weil sie sich darauf verlassen können, dass wir Vertragsärzte einen Teil ihrer Aufgaben stillschweigend miterledigen – in den von uns bezahlten Räumen und mit den von uns bezahlten Mitarbeitern. Und zwar kostenlos oder bestenfalls für nur kleines Geld. Es ist einfach nicht Aufgabe von uns Vertragsärzten, die Krankenversicherungen zu alimentieren.

Die Durchsetzung dieser Regel würde auch die ewigen Debatten um die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen beenden: "Krankenkassen sind oft mit sehr langen Krankschreibungen konfrontiert. Mancher Sachbearbeiter hat das Gefühl, mit dem Patienten passiere außer einer dauerhaften Krankschreibung nichts", wehklagen Führungskräfte der Krankenkassen. Zugleich nehmen sie diese Unsicherheit ihrer Sachbearbeiter als Begründung für eine flächendeckende Kontrolle der Vertragsärzte per Auskunftsverpflichtung. Dabei ließe sich das Unsicherheitsproblem der Verwaltungskräfte auch anders lösen, durch eine Supervision etwa oder durch regelmäßige Praktika in den Arztpraxen.

Schließlich: Wenn Krankenkassen Behandlungspfade lückenlos erforschen wollen, um eine "durchgängige Sicht auf den Patienten" zu erhalten, wie sie zur Begründung ihrer Formulare gerne anführen, so mögen sie das tun. Allerdings ist es reine Geldverschwendung, hierfür alle ca. 70 Millionen Versicherten heranzuziehen. Eine Stichprobe würde genügen.

Offene Karten

Offenheit und Verlässlichkeit sind die Vor-

aussetzung für Wertschätzung und Vertrauen. Sie fördern gesunde Lösungen. Alles andere sät Misstrauen. Unter Vertragsärzten geht die Vermutung um, manches Formular sei absichtlich so kompliziert und schlecht handhabbar gestaltet, um von seiner Benutzung abzuschrecken. Es diene der Verschleierung einer ansonsten sichtbaren klammheimlichen Rationierung. Unter begründetem Verdacht insbesondere die Formulare zur Beantragung von Krankengymnastik und Patiententransporten. Hier sind die "Erfinder" dieser Formulare in der Pflicht, diesem Verdacht entgegenzuwirken.

Fazit

Meine Vorschläge für neue Handlungsprinzipien weisen den Weg, wie das gelingen kann. Sie entschleiern das Bürokratie-Monster und nehmen ihm seine dämonische Kraft. Die frei werdende Energie wird für anderes gebraucht, nämlich für jene Zwecke, derentwegen wir den Arztberuf ergriffen haben.

Dr. med. Theresia Lautenschlager

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (8) Seite 26-28
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.