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Die vier Augen von Hausarzt und Facharzt sehen mehr

Autor: Professor Dr. Klaus-Dieter Kossow

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Kollegen werfen Kollegen vor, zu häufig zu operieren und zu viel zu verordnen. Ob das stimmt, sei dahingestellt, meint MT-Kolumnist Professor Dr. Klaus-Dieter Kossow. Aber die Kritik kann konstruktiv genutzt werden.

Der Medizinbetrieb im Allgemeinen, die Pharmaindus­trie sowie der sogenannte medizinisch-industrielle Komplex im Besonderen sind seit Jahrzehnten der Kritik der Medien ausgesetzt. Erfreulicherweise hat dies an der Wertschätzung des Arztberufes bei den Patienten nicht viel geändert, jedenfalls im Vergleich mit anderen Berufen oder gar mit Politikern.


Unter den Medizinkritikern hat sich der Journalist Jörg Blech durch besonders gut recherchierte Artikel und Bücher hervorgetan. In der Ausgabe des „Spiegels“ vom 15. August hat er unter der Überschrift „Vorsicht Medizin“ wieder zugeschlagen.


Den Ärzten wird mit selbstkritischen Zitaten von Chirurgen und Wissenschaftlern quasi aus den eigenen Reihen vorgehalten, dass sie zu viel Arzneimittel verordnen und Operationen vornehmen, auch wenn diese nicht unbedingt nötig sind.


In der Tat wird in Gesundheitssys­temen wie in Skandinavien, Neuseeland, Australien, Großbritannien oder den Niederlanden bei manchen Indikationen weniger operiert und therapiert. Andererseits gibt es auch Länder wie die USA und Frankreich, in denen zumindest der Arzneimittelverbrauch höher ist als bei uns.

Die Kritik an den Ärzten kommt aus den eigenen Reihen

Der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen hat sich vor einigen Jahren ausführlich mit Über-, Unter- und Fehlversorgung befasst. In seinen Berichten hat er allerdings mehrfach darauf hingewiesen, dass es insbesondere in der ambulanten Versorgung oft keine verlässliche Datengrundlage gibt. Ergebnisse der Versorgungsforschung wurden angemahnt.


Sicher ist folglich nur, dass viele Kollegen der Meinung sind, dass im Gesundheitsbetrieb bei manchen Indikationen zu viele ärztliche Aktivitäten entfaltet werden. Letzteres keineswegs zum Wohle der Patienten. Vielmehr gebe es mehr als 50 000 Todesfälle pro Jahr infolge von unerwünschten Wirkungen, von denen wenigstens die Hälfte vermeidbar sei.


Ob solche an Stichproben erhobenen und hochgerechneten Zahlen wirklich belastbar sind, mag dahingestellt bleiben. Immerhin sollten sie Anlass zur Selbstkritik geben. Auch gibt es zu denken, dass Ärzte sich im Schnitt seltener operieren lassen als der Rest der Bevölkerung.


Die Medizinkritik sollte uns wenigstens veranlassen, nach organisatorischen Fehlern in unserem Gesundheitswesen zu fragen, die eine Überversorgung fördern könnten.
Diese gibt es nach meiner Meinung durchaus. Einzelleistungen fördern pekuniäre Indikationsstellungen, auch wenn sie aus der Sicht von Praxisinhabern und Krankenhausträgern die ideale Vergütungsform darstellen.
Ein besonderes Risiko mit der Tendenz zur Überversorgung im deutschen Gesundheitswesen ist die Verknüpfung von freier Arztwahl mit der freien Wahl der Versorgungsebene durch die Patienten. Letztere können entscheiden wann, wie oft und zu welchem Arzt sie gehen. Dies gilt selbst bei der Inanspruchnahme hoch spezialisierter Fachärzte, auch wenn der Patient Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit eines solchen Arztbesuchs gar nicht beurteilen kann. Das hat dann nicht nur hohe Kosten zur Folge, sondern auch interkolle­giale Kontrolldefizite.

Fehler- und Mengenkontrolle fällt im Primärarztsystem leichter

In Ländern mit Primärarztsystem oder bei der Hausarztzentrierten Versorgung mit Einschreibesystem fällt die Fehler- und Mengenkontrolle erbrachter Leistungen leichter.


Hierbei ist nicht so sehr entscheidend, dass Hausärzte durch ihr Überweisungsverhalten unnötige Inanspruchnahmen von Fachärzten verhindern. Wichtig ist das Vieraugenprinzip. Der Inhalt der Arztbriefe von Fachärzten wird mit den Patienten besprochen. Dabei wird die Frage diskutiert, ob die von Krankenhäusern und Spezialisten beabsichtigten Maßnahmen wirklich erforderlich sind oder nicht. Ggf. wird eine Zweitmeinung eingeholt.


Im Ergebnis trägt die Kritik dazu bei, dass sich alle Beteiligten (auch die Fachärzte) überlegen, ob eine Maßnahme wirklich indiziert ist. Patienten können sich entscheiden, ob sie einer Operation zustimmen wollen, nachdem sie über Risiko und Chancen informiert worden sind. Diese Form von Kooperation zwischen Haus- und Fachärzten darf keine Einbahnstraße werden. Sie sollte auch zur Folge haben, dass Hausärzte – insbesondere bei seltenen Erkrankungen – keine eigenen Entscheidungen ohne fachärztliche Konsultationen treffen. Zwei Augenpaare sehen mehr als eines und zwei Ärzte können zum Wohle der Patienten doppelt kritisch handeln.

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