Anzeige

Medizinprodukteregulierung Drohen Engpässe in der Versorgung?

Gesundheitspolitik Autor: Petra Spielberg

Wenn der neue Zertifizierungsprozess für Medizinprodukte nicht gestrafft wird, dann könnte es ab 2024 schon an Grundlegendem mangeln. Wenn der neue Zertifizierungsprozess für Medizinprodukte nicht gestrafft wird, dann könnte es ab 2024 schon an Grundlegendem mangeln. © iStock/elenabs
Anzeige

Fachärzte schlagen Alarm. Zahlreiche Medizinprodukte, die seit Jahren erfolgreich in der Versorgung eingesetzt werden, drohen aufgrund geänderter gesetzlicher Regelungen vom Markt zu verschwinden oder sind bereits nicht mehr lieferbar. Zudem könnte die Innova­tionskraft der Branche leiden.

Auslöser für den Unmut unter den Ärzten sind neue Vorschriften für die CE-Kennzeichnung und Zulassung von Medizinprodukten auf dem europäischen Markt, die auf eine EU-weit gültige Verordnung (MDR) zurückgehen und seit Ende Mai 2021 greifen. 

Die größte Herausforderung für die Medizintechnikbranche ist dabei, dass die MDR eine komplette Neu- oder Re-Zertifizierung aller Medizinprodukte vorschreibt, einschließlich solcher zur Reinigung und Sterilisation, Verbandsstoffe, Sehhilfen, Software etc., um deren Verkehrsfähigkeit und Sicherheit zu bescheinigen. 

Darüber hinaus ändert sich für einige Produkte die Risikoklassifizierung. So werden z.B. Implantate, die bisher zur Risikoklasse IIb gehörten, nun als Klasse-III-Produkte eingestuft. Nur für Medizinprodukte, die aktuell im Gebrauch sind oder von medizinischen Einrichtungen vorgehalten werden, gelten die Gesetzesänderungen nicht. 

Mit der MDR wurde jedoch nicht nur der Anwendungsbereich bei den Produkten ausgeweitet, sondern auch die Anforderungen an die Dokumentation, das klinische Bewerten und Prüfen der Produkte, das Nachbeobachten und Überwachen nach ihrem Inverkehrbringen sowie die Registrierung und das Qualitätsmanagement der Hersteller und Lieferanten verschärft. 

Übergangsfrist läuft spätestens Ende Mai 2024 aus

Zwar räumt das Gesetz für einige Produkte, die bereits erfolgreich in der Versorgung eingesetzt werden, eine Übergangsfrist ein, sofern sie die aktuellen Anforderungen für eine marktkonforme Zulassung erfüllen. Diese Übergangsfrist läuft, abhängig von der Gültigkeit der rund 20.000 Altzertifikate, jedoch spätestens Ende Mai 2024 aus. Ab da verfällt der Bestandsschutz und die Hersteller müssen auch diese Produkte einer vollständigen Neubewertung unterziehen. 

Die MDR schreibt zudem vor, dass die Unternehmen jedes ihrer Produkte mit einer sog. Produkt­identifizierungsnummer (UDI) versehen müssen, die in der europäischen Medizinproduktedatenbank Eudamed hinterlegt werden soll. Die UDI soll Rückrufe erleichtern und Fälschungen schneller auffindbar machen. Noch allerdings ist die Eudamed nicht voll funktionsfähig. Höhere Ansprüche an die Organisation, personelle Ausstattung und Aufgaben stellt die MDR auch an die für die Vergabe der CE-Kennzeichen zuständigen Prüfstellen, wie den TÜV Süd, den TÜV Nordrhein, die Dekra oder andere in der EU. Denn sämtliche dieser Stellen müssen sich seit Inkrafttreten der Verordnung neu benennen lassen, um Zertifizierungen nach der MDR durchführen zu dürfen.

Konsequenzen aus dem Brustimplantate-Skandal

Ziel der neuen Gesetzgebung ist es, die Patientensicherheit zu erhöhen und Fälle, wie den Skandal um fehlerhafte Brustimplantate, der 2010 die Medizinproduktelandschaft EU-weit in Misskredit gebracht hatte, zu vermeiden. Auch soll das neue Regelwerk die Innovationskraft der Medizintechnik-Branche in Europa stärken. Doch das Gegenteil scheint einzutreten.

„Die Ärzte werden sich noch wundern, was sie demnächst nicht mehr alles auf dem OP-Tisch finden werden“, warnt Prof. Dr. Ruth Kirschner-Hermanns, Leiterin der Neuro-Urologie am Universitäts­klinikum Bonn.

Prof. Dr. Oliver Muensterer, Direktor der Kinderchirurgischen Klinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital München, blickt ebenfalls sorgenvoll in die Zukunft: „Ich sehe uns schon operieren wie unsere Vor-Vorgänger.“

Prof. Dr. Nikolaus Haas, Direktor der Kinderkardiologie und Päd­iatrischen Intensivmedizin an der LMU München sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädia­trische Kardiologie und Angeborene Herzfehler bezeichnet den Trend gar als Katastrophe. „Alles, was wir in der Kinderkardiologie erreicht haben, steht auf der Kippe“, so Prof. Haas.

Schon jetzt sind die Auswirkungen der neuen Regularien deutlich spürbar. Die Verordnung führe bei den Medizintechnikherstellern zu einem um das Zehnfache gestiegenen bürokratischen Aufwand mit Kostenzuwächsen in Milliardenhöhe, so der Bundesverband Medizinprodukte (BVMed). Der Verband sieht insbesondere die den Markt dominierenden kleinen und mittleren Unternehmen bedroht. Etwa 10 % der Firmen werden dem ­BVMed zufolge die MDR nicht überleben.

Über 70 % der Mitgliedsunternehmen hätten aufgrund der Neuregelungen bereits einzelne Medizinprodukte oder ganze Produktlinien vom Markt nehmen müssen, erklärt Verbandsgeschäftsführer Dr. Marc-Pierre Möll. 

Die Engpässe betreffen vor allem Produkte aus den Bereichen Endoprothetik, Implantate, Erste-Hilfe und Wundversorgung, Kardiologie, Ophthalmologie, Gynäkologie und Urologie, Proktologie, Neurochirurgie und Gastroenterologie, darunter auch Nischenprodukte, wie spezielle Stents für Herzkatheter-Eingriffe bei Neugeborenen. Spätestens 2024, wenn die Übergangsfrist für Bestandsprodukte ausläuft, werde sich die Lage weiter zuspitzen, prophezeit der BVMed. Aus Sicht der Bundesregierung gibt es derzeit noch keine Engpässe.

„Dass es Kontrolle braucht, ist unbestritten. Dass Sicherheit an obers­ter Stelle steht, auch“, bekräftigt Prof. Dr. Wolfram Lamadé, Chefarzt der Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie am Helios Klinikum Pforz­heim. Eine offensichtliche Überregulierung für neue Produkte könne aber nicht mehr mit Patientenschutz gerechtfertigt werden. 

Als große Hürde könnten sich auch die gestiegenen Ansprüche an die klinischen Prüfungen erweisen, die für aktiv implantierbare und Klasse-III-Produkte grundsätzlich vorgeschrieben sind und das positive Votum einer Ethikkommission sowie eine Genehmigung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erfordern. Aber auch bei innovativen Produkten niedrigerer Risikoklassen und Bestandsprodukten kann die Prüfstelle nach der MDR verlangen, dass der Hersteller sich nicht nur auf Äquivalenzdaten von Vergleichsprodukten beruft, sondern eine eigene klinische Prüfung durchführen muss. 

Wie lange die einzelnen Zertifizierungsprozesse nach dem neuen Verfahren dauern werden, lässt sich nach Aussage der Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten aufgrund der umfangreichen Anforderungen und der Auswirkungen durch die Corona-Pandemie derzeit noch nicht abschätzen. Allein für die reine Produktzertifizierung rechnet der BVMed mit einer Bearbeitungsdauer von im Schnitt mindestens sechs Monaten

Keine Anmeldung zur ­­Re-Zertifizierung möglich

Erschwerend kommt hinzu, dass der Branche bislang nur eine begrenzte Anzahl an „Benannten Stellen“ zur Verfügung steht, da sich bislang erst 27 der ursprünglich 55 in der EU registrierten Stellen für die MDR neu haben zertifizieren lassen. Aufgrund der Kapazitätsengpässe und der Tatsache, dass nicht jede Stelle alle Produktarten und Verfahren prüfen darf, können viele Medizintechnikunternehmen ihre Produkte derzeit gar nicht für eine Re-Zertifizierung anmelden. 

Lösungen nach dem Vorbild der Orphan Drugs finden

Langfristig könnten sich die gestiegenen gesetzlichen Anforderungen nicht nur negativ auf die Patientenversorgung, sondern auch auf den medizinischen Fortschritt auswirken, fürchten Ärzte und Medizintechnikhersteller, mit der Folge, dass sich die EU von außereuropäischen Märk­ten abhängig mache. Ehemals in Deutschland oder Europa hergestellte Produkte würden durch erheblich teurere amerikanische ersetzt, ist sich Prof. Lamadé sicher. 

Der BVMed-Vorstandvorsitzende Dr. Meinrad Lugan fordert daher, insbesondere für bewährte Bestandsprodukte und seltene Nischenprodukte zeitnah politische Lösungen, z.B. nach dem Vorbild der Orphan Drugs, zu finden. 

Unterstützung erhält der Verband von den Gesundheits- und Sozialministern der Länder. In einem Beschluss auf Betreiben Baden-Württembergs hat die Gesundheitsministerkonferenz der Länder Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach dazu aufgefordert, konkrete Daten über die zu erwartenden Versorgungsmängel vorzulegen und sich auf EU-Ebene für „Lösungsansätze zur Weitung des Flaschenhalses für Zertifizierungen am Ende der Übergangsfrist“ stark zu machen. Mit substanziellen Änderungen an der MDR ist nach Aussage des Bundesgesundheitsministeriums allerdings frühestens ab 2023 zu rechnen.

Medical-Tribune-Recherche

Anzeige