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„Du gehörst an den Galgen“ – Coronakrise verstärkt Hasstiraden und Diskriminierung

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Etwa die Hälfte der Anfragen bezieht sich auf Diskriminierung aus rassistischen Gründen und wegen ethnischer Herkunft. Etwa die Hälfte der Anfragen bezieht sich auf Diskriminierung aus rassistischen Gründen und wegen ethnischer Herkunft. © iStock/sorbetto
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Die Coronapandemie hat dazu geführt, dass sich Mitbürger angefeindet und diskriminiert fühlen. Betroffen sind Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer Behinderung, wegen ihres Alters oder wegen ihrer ethnischen Herkunft. Kritiker mahnen, schnellstens gegenzusteuern.

Mehr als 100 Hinweise hat die 2006 gebildete Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) inzwischen erhalten, nachzulesen im Papier „Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der Coronakrise“.

Als erste Betroffene hatte sich Ende Januar eine Frau gemeldet, die wegen ihrer chinesischen Staatsangehörigkeit nicht mehr zum vereinbarten Kontrolltermin in die Arztpraxis kommen sollte. Dabei war sie seit Monaten nicht mehr in China gewesen. „Die Fälle reichen von unverhohlenem rassistischem Verhalten in der Öffentlichkeit bis hin zu körperlichen Übergriffen“, so der kommissarische Leiter der ADS, Bernhard Franke.

Etwa die Hälfte der Anfragen betreffen Diskriminierungen aus rassistischen Gründen und wegen ethnischer Herkunft. Ein Drittel der Fälle bezieht sich auf Alter und Behinderung. Auch intersexuelle und transidente Menschen sind betroffen. Hier einige Beispiele:

  • Ein junger Mann aus Malaysia wurde von Nachbarn per Zettel aufgefordert, nach China zurückzugehen, er gehöre sonst in Deutschland an den Galgen gehängt.
  • Kinder und ältere Menschen berichteten darüber, dass sie in Supermärkten und Baumärkten keinen Zutritt erhielten.
  • Menschen mit Gehhilfen waren gedrängt worden, einen Einkaufswagen zu benutzen.

Kritisch beobachtet die Antidiskriminierungsstelle weiterhin, dass ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankung in der öffentlichen Berichterstattung und in politischen Äußerungen häufig als „Alte und Schwache“ bezeichnet werden. Eine solche Kategorisierung könne dazu führen, dass diese Menschen als „ausgesondert“ und wertlos wahrgenommen werden. Vorgeschlagen wird eine neutrale Bezeichnung wie „Menschen mit erhöhtem Risiko“.

„Die Coronakrise legt bereits vorhandene Probleme im Bereich der Diskriminierung bloß und kann sie verstärken“, resümiert Franke. „Dagegen müssen wir entschlossen vorgehen.“ Er rät allen Betroffenen, sich Unterstützung zu suchen und solche Erfahrungen nicht hinzunehmen: „Diskriminierung ist nie gerechtfertigt, auch nicht in Krisensituationen.“

Maske schränkt Gehörlose ein: Lippenlesen nicht möglich

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, sieht das ebenso. Er mahnt, im Krisenalltag bei Vorgaben die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Ausnahmen seien in Einzelfällen angezeigt.

Dusel verweist z.B. darauf, dass die Pflicht zum Tragen von Atemmasken für Menschen mit Hörbehinderung – ca. 80.000 in Deutschland – einen diskriminierenden Effekt haben könne. Wer aufs Lippenlesen angewiesen sei, könne durch die Maske beim Gegenüber in der Kommunikation eingeschränkt sein. Dusel spricht sich zudem für den Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern aus. Zur Vermittlung von Informationen in leichter Sprache sollte dies Standard sein. Dies gelte auch für Anbieter audiovisueller Medien.

Pandemie erschwert Inklusion und selbstbestimmte Teilhabe

Problematische Entwicklungen in Zusammenhang mit der Coronakrise bestätigt auch die Aktion Mensch. Würden Menschen mit Behinderung nicht als vollwertige produktive Mitglieder der Gesellschaft, sondern als vorwiegend schutzbedürftige „Kranke“ gesehen, widerspreche das allen Prinzipien der Inklusion und selbstbestimmten Teilhabe.

Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) kritisiert mit Blick auf die vorsichtige Rückkehr zum normalen Schulbetrieb, dass einzelne Einrichtungen Kinder und Jugendliche mit einem Diabetes mellitus vorerst vom Unterricht ausnähmen. Erkenntnisse zum Infektionsverlauf legen nahe, dass diese nicht gefährdeter seien als ihre Altersgenossen, betont Privatdozent Dr. Thomas Kapellen, Sprecher der AG Pädiatrische Diabetologie der DDG.

Besonders deutlich wurde die Brisanz des Themas Diskriminierung in Coronazeiten nach Veröffentlichung der Kriterien für die „Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“. Die Plattform AbilityWatch kritisierte das Papier scharf. Die Triage-Empfehlungen seien nicht hinnehmbar, denn Menschen mit Behinderung würden darin grundsätzlich benachteiligt.

Kriterien zur Triage werden als sehr problematisch angesehen

Erarbeitet hatten die Kriterien die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, medizinische Fachgesellschaften und die Akademie für Ethik in der Medizin. Der Regierungsbeauftragte Dusel mahnt ebenfalls: „Die Empfehlungen der Fachgesellschaften scheinen rechtlich problematisch, soweit sie Abstufungen beim Zugang zur Intensivmedizin zulasten von Menschen mit Behinderungen vorsehen.“

Medical-Tribune-Bericht

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