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Second-Victim-Phänomen Durch die ärztliche Arbeit traumatisiert

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Von Ärzten wird erwartet, bis an die absolute Belastungsgrenze zu arbeiten. (Agenturfoto) Von Ärzten wird erwartet, bis an die absolute Belastungsgrenze zu arbeiten. (Agenturfoto) © Mikhaylovskiy – stock.adobe.com
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Ärzte sollen tragische Momente in ihrem Alltag einfach verkraften – so der Anspruch an die Berufsgruppe. Kritische Ereignisse oder eigene Fehler können aber auch Mediziner traumatisieren. Sie werden zum „Second Victim“. Darüber wird viel zu wenig gesprochen, meint Prof. Dr. Reinhard Strametz, einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet. 

Viele Ärzte haben den Begriff sicherlich noch nie gehört. Was ist ein Second Victim?

Prof. Dr. Strametz: Ein Second Victim ist eine behandelnde Person, die durch ein außergewöhnliches klinisches Ereignis traumatisiert wird. Das heißt, ein Mensch, der beispielsweise einen Fehler begeht, dadurch einen Patienten schädigt oder hätte schädigen können und sich Vorwürfe darüber macht.  Es muss aber kein selbst verschuldetes Ereignis sein. 

Das Phänomen ist in der Praxis noch weitgehend unbekannt. Vor Kurzem haben wir mit deutschen Internisten eine Studie gemacht. Da zeigte sich: Nur einer von zehn kannte das Phänomen. Sechs von zehn haben aber gesagt: „Ich war es schon mal!“ Es kommt jetzt aber hoffentlich in den neuen Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) der Approbationsordnung. Angehende Mediziner werden das dann schon im Studium lernen.

Wie erleben Betroffene das Phänomen?

Prof. Dr. Strametz: Das ist vielfältig. Manche haben eine vorübergehende Beeinträchtigung von Tagen oder Wochen. Bis zu einem Fünftel aller Second Victims berichtet, sich nie von diesem Ereignis erholt zu haben, also dauerhaft traumatisiert zu sein. Das häufigste Symptom ist der Verlust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Es bestehen Gedanken wie: „Ich bin der schlechteste Arzt, die schlechteste Ärztin. Anderen wäre das nicht passiert.“ Damit verbunden ist eine gesteigerte Angst, künftig Fehler zu machen, neun von zehn Second Victims zeigen dieses Phänomen. Wenn ich aber unsicher in eine Behandlung hinein­gehe, dann steigt mein Risiko, weitere Fehler zu machen. Das ist bei jedem Menschen so. Die Angst vor juristischen Auseinandersetzungen oder Regressen spielt auch eine Rolle, aber nur in zweiter Linie. 

„Ich hätte am liebsten geweint“ 

„Wir hatten einen Patienten in der Notaufnahme, der heftig um sich geschlagen hat, weil er um sein Leben kämpfte. Er hatte einen Hämatothorax und ist quasi innerlich erstickt. Wir haben ihn auf die Intensivstation gebracht und versucht, ihn irgendwie zu beruhigen, ohne dabei geschlagen zu werden. Wir sind wie wild gerannt. Ich kam danach zitternd in die Notaufnahme zurück und habe mich gefragt, ob ich alles richtig gemacht habe. Dort wurde ich dann erst mal angepampt von Pflegern und Patienten, die wissen wollten, warum das so lange dauert. Ich hätte am liebsten geweint. Ich dachte: Lasst mich in Ruhe. Aber wir hatten keine Zeit, wir haben einfach weitergemacht. Es wäre schön gewesen, im Nachhinein darüber reden zu können, aber es geht immer nur darum, sich medizinisch zu profilieren. Es wird nicht thematisiert, dass man eigentlich mit einer Situation überfordert war, weil das als Schwäche empfunden wird.

Auch in der Geriatrie gab es einige schlimme Momente. Dort war seitens der Oberärzte der Kostendruck zu spüren. Um Betten freizubekommen wurden immer wieder Patienten entlassen, die eigentlich nicht entlassfähig waren. Wir hatten auch eine rüstige ältere Dame dort, die eine Lungenentzündung hatte. Sie war über der Liegezeit, aber ich konnte sie nicht entlassen, weil sie noch Sauerstoff gebraucht hat. Der Oberarzt wollte sie trotzdem entlassen. Als ihre Tochter sich darüber beschwerte, dass sie zu Hause keinen Sauerstoff habe, meinte er: „Irgendwann ist man eben einfach alt genug zum Sterben.“ Ich habe mit ihm diskutiert, aber das hat nichts gebracht. Irgendwann bin ich zur Toilette gegangen, um zu weinen. Es war für mich moralisch nicht vertretbar. Ich habe später rumtelefoniert und konnte ein uraltes Sauerstoffgerät von einem Nachbarn organisieren.“ Ärztin in Weiterbildung zur Allgemeinmedizinerin

Welche Folgen hat das für den Berufsalltag der Betroffenen?

Prof. Dr. Strametz: Zum einen leidet die Gesundheit der Ärzte, zum anderen ist es aber auch eine Gefahr für die Patientensicherheit, weil die Betroffenen mehr Fehler machen und defensive Medizin betreiben. Es kommt beispielsweise vor, dass Patienten Untersuchungen erhalten, die eigentlich nicht indiziert sind. Auch die Empathie leidet, weil die Betroffenen psychisch so in Beschlag genommen sind, dass sie für den Patienten nicht genug Kapazitäten haben. 

Sind Niedergelassene schwerer betroffen als Klinikärzte? Schließlich sind sie in ihren Praxen oft auf sich allein gestellt. 

Prof. Dr. Strametz: Natürlich ist es so, dass viele Mechanismen Klinikärzte schützen können: psychosozialer Support, Kollegen, die auf mich aufpassen, eine Rechtsabteilung, die gegebenenfalls unterstützt, Vorgesetzte, die mit einem Patienten oder seinen Angehörigen reden können. Niedergelassene sind dagegen Einzelkämpferinnen oder -kämpfer. Im stationären Bereich kann ich notfalls sagen: „Der muss mal eine Woche krankgeschrieben werden.“ Bei Niedergelassenen ist das schwierig. Das heißt: Die Hemmschwelle, Hilfe anzunehmen, und der Glaube, durchhalten zu müssen, kann – das ist nicht belegt, aber das ist eine valide Vermutung – noch höher sein. Wir überprüfen das gerade. 

Das Thema ist sicherlich schambehaftet. Wie offen wird in der Ärzteschaft über kritische Ereignisse und Fehler geredet?

Prof. Dr. Strametz: Es ist immer noch tabuisiert. Darüber spricht man bestenfalls im engsten Kollegenkreis. Wir Ärztinnen und Ärzte werden trainiert: Wir sind die Gesunden, der Patient ist der Kranke. Du musst funktionieren, ein Halbgott in Weiß. Man erwartet von uns, dass wir fehlerfrei und bis an unsere absolute Belastungsgrenze arbeiten. Das Thema Selbstfürsorge spielt eine untergeordnete Rolle. Aber gerade diese Selbstfürsorge ist wichtig, um wieder fit zu werden, fit zu bleiben und dadurch auf höchstem Niveau behandeln zu können.

Wenn ich mich nicht so gut um mich selbst kümmere wie um meine Patienten, dann werde ich früher oder später schwere Fehler machen. Und ich verstoße auch gegen das Genfer Ärztegelöbnis. Man gelobt feierlich, auf die eigene Gesundheit zu achten, um Patienten auf höchstem Niveau behandeln zu können. Ich darf also zugeben: „Ich habe ein Problem und ich brauche Hilfe.“ Das ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche. Denn dafür braucht es Mut und Ehrlichkeit. Es ist viel einfacher, das Problem verdrängen zu wollen, mit Alkohol oder Medikamenten.

„Alle haben so getan, als wäre nichts“

„Ich musste einen COVID-Patienten intubieren, er bekam kaum mehr Luft, um zu sprechen. Wir alle ahnten, dass er es nicht schaffen wird. Er schrieb mit letzter Kraft auf einen Zettel, dass wir seiner Frau ausrichten sollen, dass er sie liebt. Wir riefen die Frau in seinem Beisein an und sagten an seiner Stelle diese Worte, es waren die Abschiedsworte. Nach dieser Situation hatten alle Tränen in den Augen, die schnell weggewischt wurden. Besser man redet nicht drüber. Alle haben sich versteckt und so getan als wäre nichts.

Ich habe mit befreundeten Kolleg:innen und Freund:innen über dieses Ereignis und die Scham gesprochen. In unserer Ausbildung lernen wir, anderen zu helfen. Wir lernen auch, dass man besser weiterkommt, je härter man ist, wir lernen leider auch reinzubeißen, und wir lernen, dass Ärzt:innen übermenschlich sein müssen – Stichwort Gött:innen in Weiß. Teilweise ist das auch die Erwartungshaltung in der Gesellschaft. Eine kranke Ärztin – das geht doch nicht. Ein Arzt, der eine Pause braucht – ein Ding der Unmöglichkeit. Und ich rede von der Kaffeepause, nicht von  einer Auszeit. Wir hören „Wenn Du das nicht aushältst, dann hättest du dir einen anderen Job suchen müssen“.

Danach habe ich mich erkundigt, was es in Österreich braucht, um einen Verein zu gründen. Ich habe mich über meinen Twitteraccount vernetzt und den Verein „Second Victim“ gegründet und professionalisiert. Alle im Verein arbeiten ehrenamtlich und stecken ihr Herzblut hinein. Wir suchen gerne weitere Mitstreiter:innen. Wir finanzieren eine Telefonhotline und Beratungen rein über Spenden und einen Sponsor.“ 

Dr. Eva Potura, Anästhesistin und Intensivmedizinerin aus Österreich, Gründerin und Vorsitzende des Vereins „Second Victim“ 

Bräuchte es im Gesundheitssektor Strukturen, die den Austausch über traumatisierende Ereignisse erleichtern?

Prof. Dr. Strametz: Ich glaube, da können wir in der somatischen Medizin noch viel lernen. In der Psychiatrie würde niemand auf die Idee kommen, auf Dauer ohne Supervision zu arbeiten. Ich glaube, sie täte auch uns sehr gut und könnte uns helfen, weiter auf Topniveau zu funktionieren. Ich vergleiche das gerne mit der Fußballbundesliga: Kein Profifußballer würde bei der Belastung ohne Physio­therapie-Abteilung verletzungsfrei durch eine Saison kommen. 

Meine Vision ist, dass es auch über die Kammern oder über andere Verbände ein flächendeckendes Angebot an Unterstützung gibt. Am niederschwelligsten sind wahrscheinlich kollegiale Netzwerke, in denen ich mich mit Gleichgesinnten zu einer Gemeinschaft zusammenschließe. Denn eines muss klar sein: Früher oder später erwischt es jeden. Das Positive ist: Wenn ich rechtzeitig Unterstützung suche, dann berichten Psychotherapeuten, dass teilweise zwei bis drei ordnende Gespräche reichen, um ein Second Victim nach ihrer Definition zu heilen, also voll funktionsfähig zu machen. In sechs von zehn Fällen reicht sogar die empathische kollegiale Hilfe vollkommen aus, wenn sie rechtzeitig erfolgt.

Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Arbeitsbedingungen nicht schon unter normalen Verhältnissen prekär sind. Wenn eine Krise kommt, müssen wir noch Kapazitäten haben, um darauf reagieren zu können. Deswegen müssen wir über Reservekapazitäten im stationären und ambulanten Bereich nachdenken. 

Wie oft passieren Behandlungsfehler?

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) hat jüngst die fünfte Studie ihrer Reihe „The Economics of Patient Safety“ veröffentlicht. Sie geht darin davon aus, dass einer von zehn Krankenhausfällen durch vermeidbare Medikationsfehler entsteht. In einer vorigen Publikation heißt es, dass 13 % der Kosten im Krankenhaus und im ambulanten Bereich vermeidbar wären, wenn die Patientensicherheit gewährleistet wäre. „Das wären schätzungsweise 53 Mrd. Euro jedes Jahr in Deutschland“, erklärt Prof. Strametz. Vermeidbare Fehler würden zu den zehn häufigsten Todesursachen weltweit gehören.

Viele Fehler würden allerdings gar nicht entdeckt, gibt der Experte zu bedenken. Für einen systematischen Überblick, insbesondere über schwere Patientenschäden, würden hierzulande Behandlungsfehlerregister fehlen. „Die Ärztekammern und die Schlichtungsstellen leisten gute Arbeit, sind aber nicht vernetzt. Außerdem werden diese Einrichtungen immer noch zu selten genutzt. Es wäre gut, wenn wir genauere Zahlen darüber hätten, wie viel in Deutschland wo passiert – und damit natürlich auch darüber, welche Prioritäten wir im Sinne von Sicherheitsmaßnahmen im Gesundheitswesen setzen müssten.“

Prof. Dr. Reinhard Strametz, Facharzt für Anästhesiologie, Professor für „Medizin für Ökonomen, insbesondere Patientensicherheit“ der Hochschule RheinMain sowie Leiter des Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety Prof. Dr. Reinhard Strametz, Facharzt für Anästhesiologie, Professor für „Medizin für Ökonomen, insbesondere Patientensicherheit“ der Hochschule RheinMain sowie Leiter des Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety © Fotostudio Hoffmann, Frankfurt
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