Überversorgung Ein Kampf gegen Windmühlen?

Gesundheitspolitik Autor: Thomas Maibaum

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"Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte ist es, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten und an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gesundheit der Menschen mitzuwirken." So steht es in der Berufsordnung. Doch betreiben wir mit immer mehr Diagnostik und noch mehr Medikamenten nicht manchmal schon zu viel des Guten? Dieses Problem stellte Dr. Thomas Maibaum in seinem practica-Seminar zur Diskussion.

Insbesondere bei uns Hausärzten wächst immer mehr das Bewusstsein, dass unser ärztliches Drängen, für jedes Syndrom eine Pathologie finden zu müssen oder noch mehr potenziell kommende Symptome durch Screening frühzeitig zu verhindern, auch viel Schaden anrichten kann. Mittlerweile sind die technischen, molekularbiologischen und genetischen Kenntnisse so weit fortgeschritten, dass wir oder unsere spezialisierten Kollegen ja auch tatsächlich fast endlos weitersuchen können. Dass dies unweigerlich auch zu Risiken, Nebenwirkungen und Schaden führt (physisch, psychisch, finanziell, sozial, nicht zuletzt aber auch zeitlich), empfinden wir mittlerweile als Binsenweisheit.

Vor Überversorgung schützen

Nicht zuletzt definiert ja auch die DEGAM: "Das Arbeitsziel der Allgemeinmedizin ist eine qualitativ hochstehende Versorgung, die den Schutz des Patienten, aber auch der Gesellschaft vor Fehl-, Unter- oder Überversorgung einschließt" (wobei ich hier sogar lieber von Mitmenschen als in jedem Fall von Patienten reden wollte). In unserem eng getakteten Tag finden wir jedoch kaum die Zeit und die Kraft, uns dagegen aufzulehnen oder gar die Literatur zu wälzen, um Daten dafür zu sammeln, ob die jeweilige Maßnahme mehr Nutzen als Schaden bringen kann.

Seit ein paar Jahren ist die Thematik Überversorgung durch die Serie "Preventing Overdiagnosis" des British Medical Journals (BMJ) und die Initiative "Choosing wisely" der US-amerikanischen ABIM-Foundation (American Board of Internal Medicine) auch weiteren Teilen der medizinischen Gesellschaft ins Bewusstsein gerückt. Bei der 3. Konferenz "Preventing Overdiagnosis" in Washington DC trafen sich deshalb auch gut 300 Ärzte, Forscher, aber auch Vertreter von Selbsthilfegruppen und der Presse aus mehr als 20 Ländern zum Gedankenaustausch. Dabei wurde deutlich, dass die unbestreitbaren Errungenschaften der modernen Medizin eben auch mit einem zunehmenden Schaden bei vielen unserer Mitbürger einhergehen.

Überdiagnostik führt oft auch zu Übertherapie

Genau genommen bleibt es auch nicht bei der Überdiagnostik, sondern sie führt über so manche Fehltherapie häufig auch zu Übertherapie. Vielen von uns ist dies schon lange bei der Krebsdiagnostik und -therapie (Stichworte: Explosion der Schilddrüsenkarzinome und "Nicht-Melanom-Hautkrebse" ohne irgendeine Veränderung der Mortalitätsraten) bewusst. Aber auch auf ganz anderen Feldern ist das Verhältnis zwischen Schaden und Nutzen lange nicht so eindeutig. So entwickeln sich z. B. nur ca. 5 % aller Niereninsuffizienzen zu wirklich dialysepflichtigen Erkrankungen, und die moderne Radiologie entdeckt extrem viele Schlaganfälle (in der Framingham-Studie wurde bei ca. 30 % aller gescreenten asymptomatischen Menschen über 65 ein radiologisch nachgewiesener Apoplex diagnostiziert) und Lungenembolien mit daraus resultierender (Langzeit-)Therapie, ohne dass die Patienten wahrscheinlich einen Nutzen daraus ziehen können.

Eine Studie aus Marburg zeigte, dass bei fast jedem zweiten Patienten, der Thyroxin in der Hausarztpraxis ver0rdnet bekam, keine passende Diagnose oder Symptome gefunden werden konnten, und dass nach dem probatorischen Absetzen bei vielen der Patienten keine Symptome auftraten. Die Liste ließe sich lange fortführen.

Der Benefit einer Intervention wird oft überschätzt

Besonders bei den GKV-Präventionsangeboten ist im günstigsten Falle die Datenlage als schwach zu bezeichnen. In der Zeitschrift für Allgemeinmedizin (ZfA) wurde das Hautkrebsscreening kritisiert, ebenso der OGTT bei risikoarmer Schwangerschaft. Aus Interviews wissen wir darüber hinaus, dass sowohl wir Hausärzte als auch unsere spezialisierten Kollegen den Benefit einer Intervention maßlos überschätzen. So konnte eine Studie aus London zeigen, dass der tatsächliche Nutzen einer antihypertensiven Therapie, von Statinen oder Lifestyle-Interventionen, wie z. B. der Rauch-Stopp, im Durchschnitt um das 20-Fache überschätzt wird, wenn es um die gewonnene Lebenszeit geht. Tatsächlich liegt der Nutzen lediglich bei wenigen Wochen – was nicht heißt, dass natürlich einzelne Individuen durchaus einige Jahre gewinnen können. Und dies sind nur einige Beispiele.

Mannigfaltige Hindernisse

Wenn wir ehrlich sind, dann wissen oder ahnen wir dies doch alle schon seit Langem. Obwohl ich durchaus einige Hilfsmittel wie arriba, DEGAM-Leitlinien oder verschiedene Unterlagen des IQWiG oder AWMF nutze, fühle ich mich manchmal wie Don Quijote bei seinem Kampf gegen Windmühlen. Woran mag dies nun liegen? Die Liste der Hindernisse ist lang. Da ist

  • unser Drang, ja nichts zu übersehen,
  • die Angst vor juristischen Konsequenzen,
  • die Neigung, dem vermeintlichen Drang der Patienten nachzugeben,
  • der Wunsch, die Patienten bei sich widersprechenden Meinungen (zwischen uns Ärzten) nicht noch mehr zu verunsichern,
  • der Druck, der von medialer oder auch von Versicherungsseite kommt,
  • der Zeitmangel,
  • die unterschiedliche Interpretation von Studienergebnissen,
  • der finanzielle Druck oder auch die Gier, bereitliegende Gelder nicht abzurufen,
  • der Wunsch, es sich mit dem Spezialisten nicht zu "verscherzen".

Wie lässt sich das Problem lösen?

Trotzdem bin ich überzeugt, dass es eine der großen Herausforderungen der Zukunft für uns Hausärzte ist, gemeinsam Strategien zu entwickeln, dieser Über-, Fehl-, aber auch Unterversorgung begegnen zu können. Die norwegische Gesellschaft für Allgemeinmedizin hat hier schon ein Positionspapier entworfen, das noch dieses Jahr an alle Hausärzte verteilt werden soll. Darin werden unter anderem folgende Schritte vorgeschlagen:

  • Wir sollten nicht alles Mögliche auch wirklich tun: Interventionen, die effektiv sind, mögen trotzdem sinnlos sein.
  • Kommerzialisierung und der Glaube an den technischen Fortschritt sind wichtige Treiber der Überversorgung.
  • Überdiagnostik passiert immer dann, wenn wir vergessen, dass Krankheit und Sterben zum Leben dazugehören.
  • Je größer die Furcht ist, etwas übersehen zu können, desto höher ist auch die Gefahr der Überdiagnostik.
  • Wir sollten uns grundsätzlich fragen, ob theoretische Konstrukte auch der Gesellschaft nutzen.
  • Forschungsergebnisse und Leitlinien sollten gleichermaßen die Risiken und Nebenwirkungen publizieren.
  • Das Wort "Krebs" sollte neu definiert werden und sich auch auf invasive und metastasierende Erkrankungen beziehen.
  • Der Mythos, dass frühe Diagnosestellung automatisch mit "gut" verknüpft wird, muss bekämpft werden.
  • Der Öffentlichkeit müssen die Begriffe "falsch negativ" und "falsch positiv" nahegebracht werden, und ihr muss klargemacht werden, dass beide Resultate immer beim Testen herauskommen können.
  • Alle laufenden oder geplanten klinischen Versuche (insbesondere die Industriegesponserten) müssen auch publiziert werden.
  • Auch der beste medizinische Fortschritt kann die unsichere Zukunft nicht vorhersehen.
  • Die öffentliche Diskussion über die Konsequenzen einer kommerzialisierten Medizin muss gefördert werden.
  • Selbsthilfegruppen müssen sich noch mehr als in der Vergangenheit des Einflusses der Industrie (auch auf ihre Arbeit) bewusst sein.

Ich denke, dass es noch ein sehr langer Weg sein wird und extrem viele dicke Bretter gebohrt werden müssen, bis wir es schaffen werden, einen kleinen Teil der Fehl- und Überdiagnostik und -therapie zu verhindern. Wir sind es aber unseren Mitbürgern und nicht zuletzt unserer eigenen Psychohygiene schuldig, dies wenigstens zu versuchen.

practica 2015 Bad Orb

Kurs Nr. 365

Dr. med. Thomas Maibaum: Überdiagnostik – Wie machen wir jeden unserer Mitmenschen zum Patienten?


Autor:
Facharzt für Allgemeinmedizin, Lehrarzt der Universität Rostock
18106 Rostock

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (2) Seite 31-32
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.