Familienmedizin Eine anspruchsvolle Aufgabe

Mit "Familienmedizin in der Hausarztpraxis" ist die Behandlung von Patienten unter Berücksichtigung ihres familiären Umfelds und besonderer familiärer Belastungen gemeint. Dank ihrer integrativen Betrachtungsweise hat sie die Patienten in ihrer Gesamtheit im Blick. Die Beachtung somatischer, psychischer und soziokultureller Aspekte gehört explizit dazu.
Auf dem Kongress "Familienmedizin in der hausärztlichen Versorgung der Zukunft" war man sich sicher, dass die Familienmedizin von zentraler Bedeutung ist für eine Gesellschaft, die sich im Wandel befindet aufgrund der zunehmenden Migration, der Alterung der Bevölkerung, Arbeitslosigkeit, Armut u. a.
Gerade in den Hausarztpraxen zeigen sich gesellschaftliche Problemlagen tagtäglich. Hausarztpraxen sind gleichzeitig Brennpunkt und Abbild gesellschaftlicher Veränderungen. Vernetzung und bereichsübergreifende Zusammenarbeit werden dabei in der Gesundheitsversorgung immer wichtiger, um Gesundheits- und Teilhabechancen in jedem Lebensalter zu ermöglichen.
Hausarztpraxis als Ankerpunkt
Dies erfordert Wissen um die Zusammenhänge von familiären Lebensbedingungen, sozialen Problemlagen und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit. Wer wäre besser geeignet als die familienorientierten Hausärzte, um diese anspruchsvolle Aufgabe zu übernehmen?
Denn Hausarztpraxen können als Ankerpunkte für präventive und gesundheitsfördernde Strategien dienen und durch ihre niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit für die Versorgung von Familien im Quartier hilfreich sein.
Auch wenn es kaum wissenschaftliche Untersuchungen zur Familienmedizin gibt, klingt das in der Theorie alles sehr vernünftig. Aber füllt die Allgemeinmedizin diese familienmedizinische Rolle in der Praxis auch wirklich aus? Kann sie das überhaupt unter den derzeitigen Bedingungen? Wohl kaum, denn oft fehlen den Hausärzten dafür nicht einfach nur die Zeit, sondern auch die entsprechenden Abrechnungsziffern.
Sozialarbeit in der Hausarztpraxis
Mehr oder weniger an der Finanzierung gescheitert ist daher auch eine Art Pilotprojekt, das Dr. Eberhard Hesse in seiner Hausarztpraxis bereits in den 1970er-Jahren durchführte. Er hatte sich einige Jahre einen Sozialarbeiter in die Praxis geholt, der sich vornehmlich um Suchtkranke kümmerte und diese zum Entzug motivieren sollte. Drogen sind häufig ein Familienproblem. Das Projekt zeigte durchaus gute Erfolge, aber als Modell für unsere heutige Zeit ist der Sozialarbeiter in der Hausarztpraxis wohl kaum finanzierbar, so die einhellige Meinung der Kongressteilnehmer. Allerdings könnte das vor Kurzem verabschiedete Präventionsgesetz eine Chance bieten, hierüber mit den Krankenkassen ins Gespräch zu kommen. Denn schließlich verpflichtet das Gesetz sie, Prävention zu fördern.
Ein Modell, wie Familienmedizin erfolgreich in der Praxis umzusetzen ist, stellte Prof. Jan de Maeseneer aus Belgien vor. In einem unterprivilegierten Stadtteil von Gent war bereits 1978 ein sogenanntes Community Health Centre (CHC) gegründet worden. Aufgabe dieses CHC sollte es sein, das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung zu stärken, für gesündere Familien zu sorgen und den sozialen Zusammenhalt im Quartier zu fördern.
Interprofessionelle Kooperation wird gebraucht
Um die vorhandenen Probleme zu lösen, war es nötig, verschiedene Gruppen zusammenzubringen. Beteiligt sind dort deshalb neben den Hausärzten und einigen Kliniken auch Krankenschwestern, Ernährungsberater, Sozialarbeiter, Entzugsexperten, Psychologen, Physiotherapeuten, Zahnärzte u.nd noch viele mehr..
Das CHC betreut rund 6.000 Patienten mit über 70 verschiedenen Nationalitäten. Zur Patientenakte haben alle beteiligten Fachgruppen jederzeit Zugang. Die Hausarztpraxen sind hier also Teil eines Netzwerks mit anderen Gesundheitsberufen, die alle ihre Kompetenzen miteinander teilen.
Dieses Modell scheint in Gent gut zu funktionieren und könnte auch für Deutschland beispielhaft sein. Es setzt aber voraus, dass die in Deutschland oft hinderlichen Sektorengrenzen überwunden werden und die Kommunikation und Kooperation zwischen den Ärzten auch finanziell gefördert würde.
Das könnte schwierig werden, denn interprofessionelle Kooperation wird hierzulande auch im Medizinstudium nicht gelehrt. Und so bleibt eine Familienmedizin, die diesen Namen auch verdient, wohl noch geraume Zeit eine Vision. Was nicht heißen soll, dass es nicht überall im Lande bereits Hausärzte gibt, die Familienmedizin bereits leben.
Dr. Ingolf Dürr
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (12) Seite 34-35
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.