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Eingependelt auf den Stress

Autor: Erich Kögler

Vielleicht aber nehmen sie die tägliche Mühsal auch nur in Kauf, weil sie die hierzulande oft in astronomische Höhen gestiegenen Mieten nicht bezahlen können? Vielleicht aber nehmen sie die tägliche Mühsal auch nur in Kauf, weil sie die hierzulande oft in astronomische Höhen gestiegenen Mieten nicht bezahlen können? © Fotolia/anyaberkut
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Depressive Pendler – in unserer Meinungskolumne "Mit spitzer Feder".

Über den Sinn und Unsinn so mancher Studie habe ich mich an dieser Stelle schon vor geraumer Zeit einmal echauffiert. Nach der Lektüre einer aktuellen Pressemitteilung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK allerdings muss ich das Thema doch noch einmal aufgreifen. Eine Fehlzeitenanalyse, so heißt es darin, habe ergeben, dass die Ausfalltage aufgrund psychischer Erkrankungen bei Arbeitnehmern, die mindestens 500 Kilometer (!) zum Arbeitsplatz pendeln, um 15 Prozent höher liegen als bei denjenigen, die maximal zehn Kilometer Wegstrecke zurücklegen müssen.

Hätte es für diese Erkenntnis tatsächlich einer derartigen Untersuchung bedurft? Wenn ich tagtäglich diese Mörderstrecke zur Arbeit bewältigen müsste, dann hätte ich vermutlich auch schon längst einen psychischen Knacks. Eigentlich verwundert es vielmehr, dass die Zahl der Erkrankten nicht weit höher ist. Doch Trost ist nahe, denn die AOK weiß: „Wird die Distanz zum Arbeitsort durch einen Wohnortwechsel verkürzt, kann die relative Wahrscheinlichkeit von Fehltagen aufgrund einer psychischen Erkrankung um bis zu 84 Prozent reduziert werden.“

Diese ebenso bahnbrechende wie klar formulierte Empfehlung wird den stressgeplagten Pendlern entscheidend weiterhelfen. Vielleicht aber nehmen sie die tägliche Mühsal auch nur in Kauf, weil sie die hierzulande oft in astronomische Höhen gestiegenen Mieten nicht bezahlen können? Das Beispiel eines jungen Mannes, der in München keine erschwingliche Unterkunft finden konnte, sei hier nicht zur Nachahmung empfohlen. Er wohnt und schläft nämlich seither im Zug!

Bahncard 100 ist pro Jahr billiger als ein Einzimmer-Apartment in München

Seine Bahncard 100 für die erste Klasse kostet 7.668 Euro pro Jahr – weniger als für ein Einzimmer-Appartement in der bayerischen Metropole zu berappen wäre. Jeden Abend besteigt er so den Zug und ist dank gründlichsten Studiums der Bahn-Fahrpläne rechtzeitig am nächsten Morgen zurück am Arbeitsplatz. Alle zwei Wochen fährt er zu seinem Vater nach Saarbrücken, wäscht seine Klamotten und schläft vielleicht auch mal in einem richtigen Bett. Einmal Duschen kostet ihn sieben Euro, dazu nutzt er die WC-Center an den großen Bahnhöfen in Hamburg, München oder Berlin – oder er besucht ein Schwimmbad.

Eric Hoffmann, so der Name des Mannes, kommt in der AOK-Auswertung wohl nicht vor – und über den psychischen Gesundheitszustand des einfallsreichen Pioniers ist auch nichts Näheres bekannt. Sein „Wohn“-Modell allerdings wird nicht für viele Pendler infrage kommen. Sie werden auch künftig die verstopften Autobahnen bevölkern (müssen) – trotz aller drohenden gesundheitlichen Folgen.

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