Gesundheitssystem Erst zum Hausarzt – wenn’s noch einen gibt

Gesundheitspolitik Autor: Ingolf Dürr

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Mehr als eine Milliarde Euro werden in Deutschland täglich für die Gesundheit ausgegeben. Da wäre es doch ganz interessant zu wissen, ob das viele Geld auch das gewünschte Ziel einer guten medizinischen Versorgung erreicht. Antworten auf diese Frage versucht der jährliche MLP-Gesundheitsreport zu geben. Und da zeigt sich, dass der Ärztemangel sich weiter verschärft und immer mehr Ärzte für ein hausärztliches Primärarztsystem stimmen, das von den Kassen gefördert werden sollte. Außerdem öffnet sich beim Thema Digitalisierung eine große Kluft zwischen Wollen und Können.

Insgesamt beurteilen die meisten Bürger und Ärzte die Gesundheitsversorgung in Deutschland noch als gut oder sehr gut (77 % bzw. 89 %). Mehr als zwei Drittel der Ärzte (67 %) zeigen sich inzwischen aber unzufrieden mit der Gesundheitspolitik, vor 3 Jahren waren es noch etwas weniger gewesen. Das umstrittene Terminservicegesetz (TSVG) hat da sicher auch seinen Beitrag zu der schlechteren Stimmung geleistet. Drei Viertel der Ärzte gehen sogar davon aus, dass sich die Situation in den nächsten Jahren weiter zuspitzen wird und es immer schwieriger werden dürfte, alle aus medizinischer Sicht notwendigen Leistungen auch verordnen zu können.

Sorgen um die Therapiefreiheit

Dieser Eindruck deckt sich offenbar mit den weiter zunehmenden Klagen seitens der Bürger über lange Wartezeiten auf einen Arzttermin, 2012 monierten das 52 %, 2016 schon 55 % und 2019 sind es bereits 62 %. Und das betrifft in etwas geringerem Umfang auch Privatversicherte. Außerdem hat weiterhin rund ein Drittel der Bürger (34 %) das Gefühl, dass ihnen medizinische Leistungen aus Kostengründen vorenthalten wurden. Fast jeder zweite Arzt (45 %) bestätigt, dass dies bei ihm bereits vorgekommen sei. Noch verbreiteter sind Verschiebungen von Behandlungen aus Kostengründen: 64 % der Ärzte sahen sich dazu bereits gezwungen – vor 3 Jahren geschah dies noch seltener (57 %). Entsprechend fallen die Sorgen der Ärzte um ihre Therapiefreiheit mit 62 % weiterhin hoch aus, insbesondere bei Hausärzten (66 %). Mehr als jeder dritte niedergelassene Arzt berichtet über Zeitmangel. Kritisch äußern sich vor allem die Hausärzte. Von ihnen können sich 43 % nicht ausreichend Zeit für ihre Patienten nehmen, von den niedergelassenen Fachärzten sind es 30 %.

Über den MLP-Gesundheitsreport

Der MLP Gesundheitsreport erscheint bereits zum 10. Mal. Für die repräsentative Umfrage hat das Institut für Demoskopie Allensbach mehr als 1.200 Bundesbürger und über 500 Ärzte befragt.

Ärztemangel wird immer spürbarer

Verstärkt hat sich zudem der Ärztemangel – dieser wird für Ärzte und Bevölkerung immer sichtbarer. Im Osten der Republik nehmen inzwischen 64 % der Bürger den Ärztemangel bereits deutlich wahr oder rechnen damit, im Westen sind es 40 %. 2016 war das Problem noch weniger präsent. Niedergelassene Ärzte erkennen ebenfalls eine Verschärfung des Ärztemangels: Vor 3 Jahren sahen 60 % diesen in der eigenen Region oder rechneten damit, 2019 ist der Wert auf 71 % gestiegen. Das hat jetzt bereits konkrete Auswirkungen auf den Praxisalltag. So sagen 38 % der Hausärzte, sie müssten nun mehr Patienten versorgen. In Gemeinden unter 100.000 Einwohnern betrifft das sogar jeden zweiten Hausarzt.

Praxisnachfolge nicht gesichert

Für viele Niedergelassene bedeutet das auch, dass es immer schwieriger wird, einen Nachfolger für die Praxis zu finden. Rund zwei Drittel der Ärzte rechnen hier mit großen oder sehr großen Problemen. Vor 3 Jahren waren es noch 57 % gewesen. Bei den Hausärzten ist die Lage noch angespannter, hier machen sich 83 % Sorgen um die Nachfolge. Verschiedene Maßnahmen könnten helfen, die flächendeckende Versorgung auch in Zukunft sicherzustellen. Finanzielle Anreize für Gemeinschafts-
praxen im ländlichen Raum befürworten 88 % der Ärzte. Zudem halten es 81 % für sinnvoll, in strukturschwachen Regionen verstärkt Medizinische Versorgungszentren zu gründen.

Prämie für Hausarztbesuch

Dass ein Primärarztsystem immer mehr Anhänger findet, zeigt sich nicht nur daran, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) derzeit laut darüber nachdenkt, ob solch ein System nicht doch sinnvoll sein könnte, um die medizinische Versorgung etwas besser zu steuern. Auch im MLP-Gesundheitsreport sprechen sich 63 % der Ärzte zumindest für eine Art Hausarztprämie aus, mit der die Krankenkassen ihre Versicherten belohnen könnten, wenn sie immer zuerst den Hausarzt aufsuchen. Bei den Bürgern selbst findet die Einführung einer solchen Hausarztprämie allerdings nicht ganz so viel Zustimmung, nur 44 % würden sie befürworten.

Telemedizin steckt noch in den Kinderschuhen

Das derzeit heiß diskutierte Thema Digitalisierung und Telemedizin wurde natürlich auch im MLP-Report nicht außen vor gelassen. Von der fortschreitenden Digitalisierung versprechen sich die Ärzte insbesondere Lösungsansätze für den wachsenden bürokratischen Aufwand, den 80 % als das größte Problem in ihrer Tätigkeit sehen. Die Politik müsse im Bereich Digitalisierung mehr tun, fordern 58 %, bei den unter 45-jährigen Ärzten denken sogar mehr als zwei Drittel so. In der Telemedizin sehen 57 % der Ärzte eine Antwort auf den Ärztemangel und bescheinigen ihr generell mehr Vorteile als Nachteile. 89 % der Mediziner rechnen mit mehr entsprechenden Angeboten in den nächsten 10 Jahren, bei den Bürgern sind es mit 48 % noch deutlich weniger. Die Bürger haben hier vielleicht einen etwas realistischeren Blick, denn tatsächlich bieten derzeit nur 2 % der niedergelassenen Ärzte telemedizinische Angebote und 88 % planen dies auch nicht. Die Gründe hierfür liegen vor allem in der erwarteten eigenen Kostenbelastung (48 %), dem steigenden Verwaltungsaufwand (74 %) und Bedenken wegen des Datenschutzes (63 %).

Autor:
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (3) Seite 30-31
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

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