DEGAM-Leitlinien Evidenz statt Eminenz

Gesundheitspolitik Autor: Silke Brockmann

Mit der Verbreitung der evidenzbasierten Medizin (EbM) auch in Deutschland seit Ende der 1990er Jahre erhob sich in der wissenschaftlich orientierten Hausarztmedizin die Forderung, die hausärztlichen Handlungen und Entscheidungen mit der am besten verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz zu begründen, in Abgrenzung zu der bis dahin vorherrschenden eminenzbasierten Medizin. Dies war für die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) Ansporn, eigene Leitlinien zu entwickeln. Wir werfen einen Blick zurück.

Das Projekt "Entwicklung, Verbreitung, Implementierung und Evaluation von Leitlinien für die hausärztliche Praxis" der DEGAM begann Ende der 1990er Jahre in einer Zeit, als der Hausarztmedizin in Deutschland von sozial-politischen Kreisen eine steigende Bedeutung zugewiesen wurde und im Gesundheitswesen insgesamt (z. B. durch den Sachverständigenrat 1995) mehr Qualität und Effizienz eingefordert wurde.

Ehrenamtliche Leitlinienautoren

In der Folge bewilligte das damalige Bundesministerium für Gesundheit im Mai 1999 ein auf 3 Jahre angelegtes Modellprojekt auf Basis des DEGAM-Konzepts Leitlinien für die hausärztliche Praxis [2] mit einem Fördervolumen von ca. 900.000 DM, womit die Finanzierung von Geschäftsstellen möglich wurde. Die Leitlinienautoren waren dagegen ehrenamtlich tätig mit Unterstützung der allgemeinmedizinischen Universitätseinrichtungen, soweit diese schon vorhanden waren. Zuvor hatte die Firma SmithKline Beecham dem DEGAM-Konzept als Starthilfe ein Jahr lang einen finanziellen Zuschuss gegeben, was insbesondere der Praxiserprobung der ersten DEGAM-Leitlinie Brennen beim Wasserlassen [3] zugutekam. Zum Ende der staatlichen Förderung übernahm ab 2003 die DEGAM die Finanzierung von Geschäftsstellen, und weiterhin unterstützten allgemeinmedizinische Universitätseinrichtungen die Autoren [4] (Abb. 1).

Das DEGAM-Leitlinien-Projekt unterschied sich von seinem Anspruch und von seiner Durchführung her von der noch in den 1990 Jahren üblichen Leitlinienentwicklung anderer in der Arbeitsgemeinschaft der Medizinischen Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF) zusammengeschlossener Fachdisziplinen, da es die Anwendung der EbM und darauf basierende Empfehlungen in den Mittelpunkt stellte. Außerdem war die systematische Entwicklung und obligate Autorisierung der Leitlinien in der eigenen Fachgruppe in einem 10-Stufen-Plan festgeschrieben worden.

DEGAM-Leitlinien sind anders

Eine Abgrenzung zu anderen Fachdisziplinen erschien nötig, da die Behandlungsanlässe in der Hausarztmedizin in der überwiegenden Mehrzahl nicht Diagnosen, sondern Symptome sind und sich das diagnostische Vorgehen dadurch von dem der Spezialisten unterscheidet. Dementsprechend sollten sich die Leitlinienthemen an Behandlungsanlässen orientieren und nicht an exakten Diagnosen, entweder symptomorientiert sein (z. B. Brennen beim Wasserlassen, Müdigkeit, Kreuzschmerzen, Ohrenschmerzen, Halsschmerzen) oder bezogen auf Betreuungsfelder (z. B. ältere Sturzpatienten, Harninkontinenz, pflegende Angehörige).

Die Autoren mussten sich dabei vom Denken in rein klinischen Diagnosen lösen, das sie während ihrer Ausbildung noch vermittelt bekommen hatten. Dieser Wandel lässt sich gut anhand des Leitlinienthemas Müdigkeit illustrieren, sollte es doch zunächst "Der organgesunde Patient" heißen, bis die Erkenntnis heranreifte, dass sich kein Patient mit einem solchen Behandlungsanlass zum Hausarzt begibt, dass das Label allenfalls das Resultat eines vom Hausarzt begleiteten diagnostischen Prozesses sein kann. Die DEGAM begründete ihr Konzept mit der auf diese Weise bestmöglichen wissenschaftlichen und prozeduralen Absicherung der Empfehlungen und mit der Erwartung, dass die so entwickelten Leitlinien von den Anwendern besser akzeptiert werden. Man wusste, dass Ärzte am ehesten nach Leitlinien handeln, die Vertreter der eigenen Fachgruppe entwickelt haben. Deshalb – um sowohl die Evidenz in die Leitlinientexte zu integrieren als auch die Anwendbarkeit der Leitlinien-Empfehlungen in der Praxis zu gewährleisten – sollten die Autoren sowohl in der Praxis als auch in allgemeinmedizinischer Forschung und Lehre tätig sein. Zum Ende des DEGAM-Modellprojekts hatten sich auch viele in der AWMF zusammengeschlossene Fachgesellschaften gewandelt, indem sie Leitlinien unter Anwendung der EbM und Einbezug von Konsensusverfahren (S3-Leitlinien) erstellten.

Der DEGAM-Arbeitskreis Leitlinien (später: Ständige Leitlinien-Kommission), der sich im Verlauf des Projekts als funktionstüchtige Peer-Review-Gruppe erwies, sowie die Mitarbeitenden in den Geschäftsstellen [5] gewährleisteten die Qualität der Leitlinientexte, einen schnellen Informationsaustausch und die Kommunikation aller Beteiligten untereinander. Am 2. Dezember 1997 traf sich der Arbeitskreis Leitlinien [6] zu seiner ersten Sitzung in Frankfurt/Main [7]. In 20 Sitzungen im Zeitraum 1997 – 2003 wurden insgesamt 21 Leitlinien begleitet. Zum Ende des Modellprojekts waren 11 fertige bzw. weit fortgeschrittene Leitlinienfassungen entstanden.

Hausarztmedizin mangelte es an Studien

Der alleinige Wunsch nach besserer wissenschaftlicher Absicherung des hausärztlichen Handelns erwies sich allerdings als nicht ausreichend, die Methodik der evidenzbasierten Leitlinienerstellung zu beherrschen. Die Autoren taten sich oft schwer mit der Ermittlung der Evidenzlevel und mit der Ableitung von Empfehlungen. Das wurde noch schwieriger, wenn es sich um symptomorientierte, also komplexe Leitlinien handelte mit mehreren Entscheidungsbäumen. Auch erwies sich der Mangel an Studien für die Hausarztmedizin als ein Problem und die fehlende Erfahrung bei der Übertragung von Studienergebnissen aus anderen Versorgungsbereichen. Mit dem Autorenmanual ‚levels of evidence‘ stellte N. Donner-Banzhoff (Marburg) [8] dem Projekt ein hilfreiches Grundlagenwerk zur Lösung dieser schwierigen Aufgaben zur Verfügung.

Die Autoren waren auch nicht auf das Pro-

blem vorbereitet, wie sie bei fehlender Evidenz dennoch Empfehlungen für hausärztliches Handeln geben konnten. Es gab Befürworter eines Evidenzlevels "gute hausärztliche Praxis" (good practice point), der in solchen Fällen vergeben werden sollte. Warnende Stimmen wiesen darauf hin, dass damit die EbM ad absurdum geführt, die Evidenz also ‚hintenherum’ wieder ausgesperrt würde und dass auch all jene Therapien die gute Praxis für sich reklamieren könnten, die den Beleg für die Effektivität gerade nicht beibringen könnten.

Durch das Aufdecken der genannten und weiterer Schwierigkeiten bei der Leitlinienbearbeitung wurden in dem DEGAM-Leitlinien-Projekt nützliche Modifikationen des Konzepts – z. B. bei der Methodik der Texterstellung, der Autorenauswahl, dem Verabschiedungsprozess – vorgenommen.

Durch das DEGAM-Leitlinien-Projekt wurden erstmals in Deutschland Probleme identifiziert und angepackt, vor denen auch internationale Leitlinienprojekte standen:


  • Wie die Autoren unterstützen?
  • Wie die Methodik der evidenzbasierten Medizin lernen?
  • Wie spielen Theorie und Praxis ineinander?

Nicht alle Vorgaben des DEGAM-Konzepts konnten zu Beginn ausreichend ausgeführt werden. So wurden Patientenvertreter kaum in die Leitlinienentwicklung eingebunden. Die Akteure des Projekts mussten sich auch mit Erkenntnissen auseinandersetzen, die die Effektivität der vorgesehenen Implementierungsmodule (wie Infozepte, Patienteninformationen usw.) anzweifelten.

Konzept der gemeinsamen Entscheidungsfindung

Die Frage, wie sich Leitlinien in die Praxis übersetzen lassen, erwies sich als besondere Knacknuss, bahnte aber begleitenden Forschungsprojekten den Weg, die sich damit beschäftigten, wie Ärzte Leitlinien anwenden. Immerhin wurde das Konzept der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Ärzten und Patienten auf Basis ihrer Präferenzen mit der Verbreitung der Idee der evidenzbasierten Medizin unter Hausärzten gebräuchlich. Die Gestaltung der Entscheidungsfindung ist zwar weiterhin die ureigene Aufgabe der einzelnen Ärzte, bei zahlreichen Themen aber stehen ihnen mit den DEGAM-Leitlinien inzwischen fundierte Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung.

Literatur:
1. Dokumentiert sind dazu u.a. Äusserungen von: H.H. Abholz, F. Gerlach, P. Helmich, G. Lorenz, J. Szecsenyi

2. Gerlach F M, Abholz H.-H, Berndt M, Beyer M, Fischer G C, Helmich P, Hummers-Pradier E, Kochen M M, Wahle K (1999): Konzept zur Entwicklung, Verbreitung, Implementierung und Evaluation von Leitlinien für die hausärztliche Praxis, DEGAM; Eigenverlag, Düsseldorf/Hannover

3. Hummers-Pradier E, Kochen M M (1999): Leitlinie Brennen beim Wasserlassen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Düsseldorf:

4. ausführliche Darstellung des Projekts in: Brockmann S (2004): Hausärztliche Leitlinien zwischen Erfahrung und ‘Evidence". Düsseldorf: omikron-publishing, ISBN: 3-936572-04-6

5. Im Projektzeitraum 1999-2003 waren dort u.a. Martin Beyer (Uni Hannover, Kiel, Frankfurt) und Silke Brockmann (Uni Düsseldorf) tätig.

6. Ausführliche Darstellungen der Strukturen findet sich in Brockmann S (2004)

7. Die 16 Gründungsmitglieder waren: H.H.Abholz, V.Braun, N.Donner-Banzhoff, G.C.Fischer, F.M.Gerlach, P. Helmich, E.Hesse, E.Hummers-Pradier, K.Jork, M.M.Kochen, W.Niebling, W.Sohn, J.Szecsenyi, H.-O. Wagner, K.Wahle, P.Zeitler.

8. Donner-Banzhoff N (1999, 2000): Autorenmanual "Levels of evidence". AK Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Marburg.


Autor:
Fachärztin für Allgemeinmedizin, Umweltmedizin
CH–3007 Bern

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (8) Seite 22-24
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

Abb. 1: Strukturen im DEGAM-Leitlinienprojekt 1999–2003 Abb. 1: Strukturen im DEGAM-Leitlinienprojekt 1999–2003