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Fallstricke im alltäglichen Praxisbetrieb

Gesundheitspolitik Autor: Dr. Sascha Bock

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Ob beim Screening oder in der Bildgebung – in vielen Bereichen kommt es zu Überdiagnostik und -therapie. In der täglichen Routine bemerkt man einige Fallstricke gar nicht mehr, meint ein Experte.

Viele Fragen beschäftigten die Kollegen, die sich im Seminar mit dem Thema Überdiagnostik und -therapie auseinandersetzten:

  • Warum sollte ich eine ausgiebige Diagnostik veranlassen, nur um einem Patienten Gesundheit zu bescheinigen?
  • Laufe ich Gefahr etwas zu übersehen, wenn ich einen unklaren radiologischen Befund auf sich beruhen lasse?
  • Was sage ich einem Patienten, der sich aus purer Begeisterung eine bestimmte diagnostische Technik wünscht?

"Es gibt kein Patentrezept", dämpfte Dr. Thomas Maibaum, Hausarzt aus Rostock und Lehrarzt an der Universität Rostock, die Erwartungen. Man finde immer Beispiele, in denen die gesamte diagnostische Palette Leben gerettet hat, und es gibt immer Gegenbeispiele dazu.

Ziel des Referenten war es, seinen Kollegen mögliche Fehlerquellen im eigenen Denken und Handeln aufzuzeigen und so für Fallstricke im medizinischen Alltag zu sensibilisieren.

Gewinnen Patienten Lebenszeit oder nur Diagnosezeit?

Hat man als Arzt z.B. ein schicksalhaftes Ereignis erlebt oder in einer Untersuchung schon einmal etwas übersehen, so achtet man künftig genauer darauf und macht vielleicht sogar mehr als nötig. Dieses Verhalten bezeichnet Dr. Maibaum als Pseudofehler.

Auch beeinflussen verschiedene kognitive Verzerrungseffekte, Bias genannt, unser ärztliches Handeln. Die Leadtime-Bias steht für eine scheinbar verlängerte Überlebenszeit durch Vorverlegung des Diagnosezeitpunkts mittels Screening.

Wird beispielsweise eine Gendiagnostik auf Chorea Huntington durchgeführt, hat das für den Patienten keinen therapeutischen oder lebensverlängernden Effekt – man erkennt die Erkrankung lediglich früher. Bei der Bewertung von Literatur oder Testverfahren gelte es daher darauf zu achten, ob die Betroffenen durch eine Methode wirklich Lebenszeit oder "nur" Diagnosezeit gewinnen, mahnte der Experte.

Statistisch rettet man mit jedem Screening Leben – auch mit dem PSA-Screening und der Mammografie. Doch stimmt dabei das Verhältnis oder handelt es sich um eine Overdiagnosis Bias, fragte sich Dr. Maibaum.

In Südkorea z.B. wird alle zwei Jahre mittels Ultraschall nach Schilddrüsenkarzinomen gesucht. Seit 2000 hat sich dadurch die Inzidenz verfünfzehn- bis vervierzigfacht. Die Mortalität hingegen ist über diesen Zeitraum identisch geblieben.

"Man sollte aber doch auch seinen eigenen Beobachtungen trauen", warf ein Seminarteilnehmer ein. Er habe wesentlich weniger Fälle von fortgeschrittenen Kolonkarzinomen, seit es das Koloskopiescreening gibt.

Die Mammografie hingegen sei seiner Erfahrung nach kein zuverlässiges Verfahren. "Wir müssen aufpassen, die Eindrücke aus der eigenen Praxis nicht zu extrapolieren", mahnte der Referent – diesen Effekt bezeichne man als Erfahrungsbias.

Auch seelische Schäden durch Überversorgung

Zunächst sollte man sich auf die Fakten besinnen. Bezogen auf die Brustkrebsfrüherkennung bestätigt die Studienlage die Wahrnehmung des Teilnehmers: Nachweislich rettet man eine bis zwei Frauen pro 1000, wenn diese über zehn Jahre regelmäßig mammografiert werden.

Die Quote zwischen Überdiagnose und rettender Diagnose beträgt dabei 3:1 bis 4:1. Das bedeute nicht, dass man jeder Frau das Screening ausreden sollte, jedoch darf diese Information beim Beratungsgespräch nicht untergehen, so der Kollege.

Auch warnte Dr. Maibaum vor einer kognitiven Dissonanz: Ist man von etwas überzeugt, so weicht man schwerer wieder von dieser Meinung ab. Daher sollte man das eigene Handeln immer wieder selbstkritisch überprüfen.

In Studien wird der Fokus oft sehr stark auf den Nutzen und weniger auf potenzielle Schäden gelegt, kritisierte der Kollege. Mit den negativen Auswirkungen einer Überversorgung haben sich dänische Experten beschäftigt.

Sie definierten verschiedene Ebenen nachteiliger Konsequenzen. Dazu zählen sowohl verschiedene Mehrkosten wie medizinische Ausgaben, Arbeits- oder soziale Kosten als auch physische und psychische Belastungen, die sich aus einer Diagnose ergeben: So korreliert beispielsweise die Feststellung eines Hypertonus mit Eheproblemen. Sollte man also aus jedem Patienten mit minimaler Normabweichung direkt einen Hypertoniker machen?

 

"Choosing wisely" – ein
 Konzept im Kommen

 

Sämtliche Fachgesellschaften der USA wurden gebeten, jeweils die Top 5 bzw. Top 10 der in ihrem Fach unnötigsten Maßnahmen zusammenzustellen. Auf www.choosingwisely.org findet man diese Ranglisten.

Für den Hausarztbereich gibt die American Academy of Family Physicians sogar 15 Tipps, u.a.:

  • Keine Bildgebung bei unspezifischem Rückenschmerz, wenn dieser nicht über sechs Wochen andauert und keine Warnzeichen (red flags) vorliegen.
  • Kein jährliches EKG oder Kardio-Screening bei Niedrigrisikopatienten, solange keine Symptomatik besteht.

Zu allen Punkten nennen die Autoren auch immer Leitlinien-Reporte oder andere Quellen. Insgesamt müsse man aber auch diese Listen kritisch hinterfragen, so Dr. Maibaum. Denn mittlerweile gebe es nur noch bei einem Drittel gute Belege.

Ideen reichen von Vorgaben bis zur Eigenverantwortung

"Es müsste eine Instanz geben, die sagt: Diese Diagnostik ist sinnlos und gehört konsequent vom Katalog gestrichen", forderte ein Seminarteilnehmer. Für einen weiteren Kollegen liegt die Informationspflicht bei den Ärzten selbst. Diese sollten dem Patienten nach einer umfassenden Aufklärung die Möglichkeit geben, über Für und Wider einer Maßnahme zu entscheiden.

Einen ersten Schritt in Richtung Transparenz und Konsensbildung stellt die Initiative "Gemeinsam Klug Entscheiden" der AWMF* und ihrer Fachgesellschaften dar. Nach amerikanischem Vorbild (s. Kasten) sollen in Zukunft Praxisempfehlungen erstellt werden, die u.a. Hinweise auf Über- oder Unterversorgung liefern.


*Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

Quelle: practica 2015

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