Unzertrennlich Familienmedizin in der hausärztlichen Praxis
Die Wurzeln der Familienmedizin in Deutschland gehen auf die Allgemeinärzte Frans J. A. Huygen (Niederlande) und Hans Hamm in den 1980er-Jahren zurück. Huygen formulierte als These: "Die Familie als Einheit ist der Patient [2]". Hamm sieht in der Familie eher selten die Behandlungseinheit, aber dennoch den therapeutischen Rahmen hausärztlichen Handelns [3]. Nach dieser Welle des Interesses gab es Ende der 1990er-Jahre vereinzelt Ansätze, die Aufmerksamkeit erneut auf die Familienmedizin zu lenken [4, 5]. Die Integration familienmedizinischer Ansätze in Praxis und Forschung fand jedoch selten statt [5].
Was ist heute mit "Familienmedizin" gemeint?
"Familienmedizin ist eine wichtige Aufgabe in der hausärztlichen Versorgung", lautet eine der Zukunftspositionen der DEGAM [6]. Sie beschreibt in ihrer Definition von Allgemeinmedizin aus dem Jahr 2002 als haus- und familienärztliche Funktion "insbesondere die Betreuung des Patienten im Kontext seiner Familie oder sozialen Gemeinschaft, auch im häuslichen Umfeld (Hausbesuch)". Doch "Familie" heute ist nicht mehr das, was sie vor einigen Jahrzehnten war. Neben dem traditionellen Modell der Kleinfamilie wird heute eine Vielzahl weiterer Familienformen gelebt. Der Familienmedizin liegt deshalb ein erweitertes Verständnis von "Familie" zugrunde: Ausgangspunkt ist der Patient selbst und was aus seiner Perspektive heraus das Netz an (alltags-)relevanten Beziehungen darstellt. In einer aktuellen Expertenbefragung im Rahmen einer hausärztlichen Delphi-Studie [1] entschieden sich die Befragten auch für eine weite Definition dessen, was im Kern als "Familienmedizin in der Hausarztpraxis" bezeichnet wird: Familienmedizin praktiziert, wer das familiäre Umfeld mit berücksichtigt, "ohne dass weitere Familienmitglieder in derselben Praxis in Behandlung sein müssen".
Informationen zum Forschungsschwerpunkt Familienmedizin des ifam (Düsseldorf) und der Kongressreihe "Familienmedizin in der hausärztlichen Versorgung der Zukunft".(www.familien-medizin.org). Auf dieser Webseite findet sich auch die Arbeitsdefinition "Familienmedizin in der Hausarztpraxis" als PDF.
In diesem Beitrag wird die Kerndefinition im Wortlaut wiedergegeben und zur Diskussion angeboten. Weitere Aspekte der Umsetzung sind in der erweiterten Fassung nachzulesen [7]. Im Laufe einiger Jahre kann eine Anpassung an den aktuellen Forschungsstand notwendig werden.
Zukunft der Familienmedizin
Kontrovers diskutiert wurde das Verhältnis von Familienmedizin zur Allgemeinmedizin. Die Abgrenzung und Positionierung von Familienmedizin gegenüber der Allgemeinmedizin ist nicht eindeutig möglich. Noch 1981 beantwortete Jürg Willi die Frage, was Familienmedizin ist, mit folgenden Worten: "Grundsätzlich meint dieser Begriff nichts anderes als Hausarztmedizin oder Primärmedizin, wobei das neue Wort auch für die Wiederentdeckung und Wiederbelebung des ältesten Bereiches der Medizin steht [8]." Obwohl die Familienmedizin integraler Bestandteil von Allgemeinmedizin ist, vertreten wir die Auffassung, dass eine eigene Definition notwendig ist, um sie als gemeinsame Grundlage für Forschung und Lehre nutzbar zu machen. Die Frage, wie Familienmedizin in der täglichen hausärztlichen Praxis tatsächlich umgesetzt wird, ist eine Frage für weitere hausärztliche Forschungsprojekte, für die – so hoffen wir – mit der vorliegenden Arbeitsdefinition eine Ausgangsbasis geschaffen wurde.
LiteraturKalitzkus V, Vollmar HC (2016) Familienmedizin in der Hausarztpraxis. Eine Delphi-Studie zur Entwicklung einer gemeinsamen Arbeitsdefinition. Zeitschrift für Allgemeinmedizin 2016; 92 (5): 208–212
Kalitzkus V, Wilm S (Hg.) (2013) Familienmedizin in der hausärztlichen Versorgung der Zukunft. Düsseldorf: düsseldorf university press
Kerndefinition "Familienmedizin in der Hausarztpraxis" [1]
Die Familienmedizin ist integraler Bestandteil der Allgemeinmedizin. Sie verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der das Wissen um die familiäre Situation einbezieht.
"Familienmedizin in der Hausarztpraxis" ist definiert als die Behandlung eines Patienten unter Berücksichtigung des familiären Umfeldes und besonderer familiärer Belastungen, ohne dass weitere Familienmitglieder in derselben Praxis in Behandlung sein müssen.
Der "Familienmedizin in der Hausarztpraxis" wird ein über das "klassische" Konzept von "Familie" hinausgehendes, erweitertes Verständnis von Familie zugrunde gelegt. Zur "Familie" eines Patienten gehören die Mitglieder seiner Herkunftsfamilie. Darüber hinaus zählen diejenigen Menschen hinzu, mit denen er über Heirat oder eine eingetragene Lebensgemeinschaft verbunden ist, in Wohn- oder Hausgemeinschaft (auch im höheren Lebensalter) zusammenlebt, aber auch ehemalige Partner oder entfernt lebende Angehörige, sowie sie sich für den Patient mitverantwortlich zeigen. "Familie" schließt alle Formen von Lebensgemeinschaften (auch ohne Trauschein, mit oder ohne Kinder) ein, die sich emotional aufeinander beziehen (z.B. "Patchwork"-Familien).
"Familienmedizin in der Hausarztpraxis" ist für folgende Aufgaben zuständig:
- Primärärztliche Betreuung von Patienten (als integraler Teil der Allgemeinmedizin),
- Beachtung somatischer, psychischer und psychosomatischer Probleme/Erkrankungen,
- Beobachten und Abklären von sozialen Ereignissen, die nicht unmittelbar mit medizinischen Befunden korrelieren.
In der Umsetzung gehören dazu im Einzelnen folgende Kernaufgaben:
- Hausärztliche Sorge, Begleitung und Betreuung für mehrere Familienmitglieder unter Balance der einzelnen Bedarfe,
- Verstärkte Aufmerksamkeit für familiäre Problemlagen/Belastungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können,
- Prävention/Gesundheitsförderung,
- Ressourcen und Risiken von Familie (er)kennen und berücksichtigen,
- Das Individuum und die Familie zur Selbstbefähigung/Selbstregulation unterstützen.
In der Lösung dieser Aufgaben zeichnet sich die "Familienmedizin in der Hausarztpraxis" insbesondere durch folgende Herangehensweisen aus:
- Gesundheitliche bio-psycho-soziale Betreuung und Begleitung von Menschen,
- Ganzheitliche Sichtweise auf den Patienten und seine Probleme,
- Kenntnis und explizite Berücksichtigung des familiären, sozialen und kulturellen Umfeldes in der Betreuung von Patienten und ihren Familien,
- (Mit)Behandeln von Familienmitgliedern,
- Berücksichtigung von Bedürfnissen und Besonderheiten der einzelnen Familienmitglieder innerhalb der Familie oder Lebensgemeinschaft,
- Berücksichtigung familiärer Interaktionen und Dynamiken beim Umgang mit Diagnosen, Krankheitsbildern und Krankheitsfolgen, unabhängig vom Setting der Konsultation (Einzel-, Paar-, Familiengespräch),
- Anerkennung der wechselseitigen Auswirkungen von Gesundheit/Krankheit auf das psychische und soziale Gefüge von Patient und Familie,
- Einbezug des Wissens um das familiäre Umfeld und seine gesundheits- bzw. krankheitsfördernden Aspekte in Anamnese, (Differential-) Diagnostik und Therapieplanung. Der Einbezug dieses Wissens und der daraus folgenden Konsequenzen erfolgt auf 3 Ebenen: 1) Thematisierung im Einzelgespräch mit Patient; 2) Paargespräche oder Eltern-Kind-Konsultationen in der Praxis; 3a) Krankheitsbezogene Familienkonferenzen im häuslichen Umfeld (z. B. bei der häuslichen Begleitung von Demenzkranken); 3b) Krankheits- oder problembezogene Familienkonferenzen in der Praxis (z. B. Umgang mit chronischer Erkrankung eines Familienmitgliedes, familiäre Konflikte),
- bei Entwicklung der Anamnesen, Befunde, Risiken auch den Langzeitverlauf (Individuum wie Familie) und belastende Aspekte, wie biographische, kulturelle, religiöse o.ä. Konflikte/Verletzungen beachten.
[1] Kalitzkus V, Vollmar HC (2016) Familienmedizin in der Hausarztpraxis. Eine Delphi-Studie zur Entwicklung einer gemeinsamen Arbeitsdefinition. Zeitschrift für Allgemeinmedizin 2016; 92 (5): 208-212.
Ausführlich dargestellt ist die Studie unter: Kalitzkus V (2015) Arbeitsdefinition von "Familienmedizin in der Hausarztpraxis" in Deutschland – eine Delphi-Befragung. Abschlussbericht. Düsseldorf. Abrufbar unter: www.familien-medizin.org/wp-content/uploads/2015/09/FamMed_Delphi_Bericht_2015-9-1.pdf
[2] Huygen FJA (1979) Familienmedizin. Aufgabe für den Hausarzt. Stuttgart: Hippokrates Verlag
[3] Hamm H (Hg). (1986) Allgemeinmedizin, Familienmedizin. Lehrbuch und praktische Handlungsleitwege für den Hausarzt. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 524
[4] Sandholzer H, Cierpka M (1996) Allgemeinmedizin ist Familienmedizin. Ein methodischer und kasuistischer Beitrag zu einem hausärztlichen Essential. Z Allg Med 1996; 72: 1016–1022
[5] Himmel W, Kochen MM (1998) Der familienmedizinische Ansatz in der Allgemeinmedizin. Dtsch Ärztebl 1998; 95: A-1794–A-1797
[6] Abrufbar unter www.degam.de/files/Inhalte/Degam-Inhalte/Ueber_uns/Positionspapiere/DEGAM_Zukunftspositionen.pdf (letzter Zugriff am 20.01.2016)
[7] Kalitzkus V (2015) Arbeitsdefinition "Familienmedizin in der Hausarztpraxis". Düsseldorf: Institut für Allgemeinmedizin. Abrufbar unter www.familien-medizin.org/wp-content/uploads/2015/05/Arbeitsdefinition_Familienmedizin_ifam-20151.pdf
[8] Willi J. Vorwort. In: Becker H, Erb G, Friedrich H et al. (Hg) Psychosozial. Zeitschrift für Analyse, Prävention und Therapie psychosozialer Konflikte und Krankheiten. Schwerpunktthema: Familienmedizin. psychosozial 1981; 3: 5–7, S. 5
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (12) Seite 30-32
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