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Faule Ärzte sind nicht das Problem, liebe AOK

Autor: Professor Dr. Klaus-Dieter Kossow

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Wie bitte? Ärzte arbeiten zu wenig für GKV-Patienten? Die Kassenfunktionäre sollten sich mal kritisch an die eigene Nase fassen, meint unser Kolumnist Professor Dr. Klaus-Dieter Kossow.

In diesem Jahr war die Sommerpause verregnet und für die Ärzte endete sie mit dem Donnerschlag einer handfesten Beleidigung.


Mancher Kollege mag schon vergessen haben, dass Anfang September der Vorstand des AOK-Bundesverbandes – vertreten durch Jürgen Graalmann – die Schlagzeilen der Boulevard- und Standespresse mit dem Vorwurf füllte, die Ärzte arbeiteten zu wenig für die Versicherten und Patienten der GKV.


Da mussten Ärzte, die in der Urlaubszeit zu Hause geblieben waren und die zahlreichen Patienten der im Urlaub befindlichen Kollegen mit behandelt hatten, erst einmal schlucken. Dann gab es entrüstete bis zornige Leserbriefe sowie Repliken der Repräsentanten ärztlicher Körperschaften und Verbände. Der Bundes­ärztekammerpräsident meinte, Graalmann habe sich mit seiner billigen Polemik von der ernsthaften Politik verabschiedet. Der KBV-Chef verlangte eine Entschuldigung. Der Vorstand der KV Bayerns kommentierte, Graalmann kenne die Gegebenheiten der vertragsärztlichen Versorgung nicht.

Der AOK-Verbandschef hat falsch diagnostiziert und kodiert

Am 1. Oktober hat Jürgen Graalmann sein neues Amt als Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes angetreten. Sein Bekanntheitsgrad ist sicher durch die verursachte Aufregung eher gestiegen. Für die Zukunft sollte man von ihm aber eine seiner Gehaltsklasse entsprechende politische Leistung und eine daran angepasste Verhaltensweise erwarten.


Dabei stimmen einige seiner Befunde zum Gesundheitswesen sogar. In der Tat gibt es steigende Arztzahlen. Eine nachhaltige Bewerberzahl um medizinische Studienplätze lässt hoffen, dass auch in der nächs­ten Generation der Arztberuf nicht ausstirbt. Ferner stimmt es, dass manche Patienten auf Facharzttermine immer länger warten müssen.


Ich habe Verständnis dafür, dass ein AOK-Vebandschef um eine reibungslose Versorgung der Patienten bemüht ist. Graalmann hat aber falsch diagnostiziert und kodiert, wenn er in einer gemutmaßten Faulheit bei Ärzten oder in einer notorischen Bevorzugung von Privatpatienten den wesentlichen Grund für die Probleme bei der Koordinierung der Versorgung sieht.


Seit 40 Jahren habe ich unzählige Stunden am Verhandlungstisch mit Repräsentanten der GKV zugebracht. Was heute von Graalmann kritisiert wird, hat sich unter der Verantwortung von Krankenkassenvorständen für die Gestaltung des Gesundheitswesens entwickelt.

Das Problem ist die freie Wahl der Versorgungsebene

Der Zugang zum Versorgungssystem wurde nicht sachgerecht organisiert. Man hat die freie Arztwahl mit einer Wahl der Versorgungsebene durch Patienten, also medizinische Laien, verknüpft. Ob Patienten mit Schnupfen zum HNO-Arzt oder mit Kopfschmerzen direkt zum Neurologen oder in eine Poliklinik gehen, das bestimmen sie selbst – vor allem dann, wenn sie keinen Hausarzt in Anspruch nehmen.


Schon vor fast 20 Jahren hat der Kardiologe Praetorius veröffentlicht, dass die diagnostische Trefferwahrscheinlichkeit um den Faktor vier steigt, wenn Patienten mit „Herzbeschwerden“ vom Hausarzt zum Kardiologen überwiesen werden und diesen nicht direkt mit ihrer Versichertenkarte aufsuchen. Trotz vieler ähnlicher Forschungsergebnisse und Publikationen hält sich aber hartnäckig die Ideologie, dass der direkte Zugang zum Facharzt um die Ecke ein Qualitätsmerkmal unseres Versorgungssystems sei.

Konstruktive Veträge in Baden-Württemberg

Nun müssen Graalmann und viele andere Kassenfunktionäre endlich erkennen, dass nicht faule Ärzte, sondern sie selbst die wesentliche Ursache der Probleme sind. Sie schließen die Versorgungsverträge. Und sie regeln dadurch, dass die Spezialversorgungsebene aufgrund des ungehinderten Zugangs aller Versicherten mit Routinefällen verstopft wird. Dies wäre nicht der Fall, wenn man in der hausärztlichen Versorgungsebene durch ein Einschreibsystem klare Verantwortlichkeiten für die Steuerung von Dia­gnostik und Therapie schafft.


Dass ein AOK-Vorstand Koordination und Zugang zum System durch Verträge konstruktiv gestalten kann, lässt sich in Baden-Württemberg beobachten. Dort gibt es bereits für einige Spezialgebiete Verträge, die die Versorgung durch Haus- und Fachärzte regeln, inklusive der Bearbeitung von Schnittstellen- und Warteschlangenproblemen.


Beim AOK-Vorstand Dr. Christopher Hermann in Baden-Württemberg kann Herr Graalmann lernen, wie man die Krankheiten des Gesundheitswesens richtig diagnostiziert und kodiert und dadurch Ärzte motiviert. Dies ist die Voraussetzung für eine zielführende Therapie in Gestalt einer reibungslosen Organisation der Versorgung.

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