Deutschland im Alkohol-Dilemma  Früh übt sich: Wie Politik Alkohol verharmlost

Gesundheitspolitik Autor: Interview: Jan Helfrich

Im EU-Vergleich hinkt Deutschland bei der Besteuerung von ­Alkohol ­hinterher. Im EU-Vergleich hinkt Deutschland bei der Besteuerung von ­Alkohol ­hinterher. © maxsol7 – stock.adobe.com

In kaum einem anderen Land ist Alkohol so günstig und leicht verfügbar wie in Deutschland. Studien zeigen, dass laxe Gesetze, fehlende Steuern und unregulierte Werbung vor allem den frühzeitigen Konsumstart bei Kindern und Jugendlichen begünstigen.

Alkohol ist hierzulande so günstig und verfügbar wie kaum anderswo in Europa. Trotz Forderungen aus der Wissenschaft und von Suchthilfeverbänden, das zu ändern, hat sich politisch kaum etwas getan. Welche Maßnahmen notwendig wären, um das Leid und die hohen Schäden zu begrenzen, die Alkoholkonsum verursacht, erklärt die Psychologin Dr. rer. nat. Carolin Kilian vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg.

Die Bundesländer fordern den Bund auf, das „begleitete Trinken“ ab 14 Jahren in Anwesenheit der Eltern abzuschaffen. Zudem soll eine Strategie zur Verhältnisprävention jugendlichen Alkoholkonsums erarbeitet werden. Wie bewerten Sie den Jugendschutz beim Alkohol?

Die deutsche Alkoholpolitik hinkt sowohl im europäischen Vergleich als auch gegenüber Ländern wie Kanada, den USA oder Australien stark hinterher. Alkohol ist hierzulande sehr günstig und praktisch überall erhältlich. Das bedeutet, er ist auch für Kinder und Jugendliche erreichbar. Der Jugendschutz weist zwar Regelungen zu Alkohol auf – diese sind jedoch unzureichend. Vor allem gegenüber Alkoholwerbung im Internet und in den sozialen Medien sind Kinder und Jugendliche exponiert. Eine Regulation findet dort kaum statt.

Die Abschaffung des „begleiteten Trinkens“ ist längst überfällig. Alkohol wird nicht besser, weil die Eltern anwesend sind. Es ist immer noch die gleiche gesundheitsschädliche Substanz. Vor dem Hintergrund der Gehirnentwicklung könnte man auch über eine Erhöhung der Altersgrenze auf 18 Jahre für Bier und Wein nachdenken. Länder wie Litauen oder Finnland haben z. B. inzwischen eine Altersgrenze ab 20 Jahren für diverse alkoholische Getränke eingeführt.

Welche Rolle spielen Werbung und Sponsoring im Sport oder in sozialen Medien bei der Attraktivität von Alkohol für junge Menschen?

Es ist sehr gut belegt, dass Alkoholwerbung den frühzeitigen Konsumstart bei Kindern und Jugendlichen begünstigt. Die Gesetzgebung in Deutschland bezieht sich v.  a. auf die Inhalte von Werbung in z. B. Fernsehen und auf Plakaten. Doch wie viele Kinder sehen heutzutage noch klassisches Fernsehen?

International herrscht großer Handlungsbedarf in den sozialen Medien, insbesondere beim Influencer-Marketing. Da Influencer keine Alkoholproduzenten sind, sondern Einzelpersonen, ist es schwierig, diesen Bereich zu regulieren. Deshalb brauchen wir hierfür dringend gute Konzepte.

Für den Bereich Sport finde ich den Vergleich mit Tabak passend: Wer würde es heute noch legitim finden, wenn ein Kind mit einem Sporttrikot herumläuft, auf dem z. B. Marlboro-Werbung abgebildet ist? Es ist aber für die meisten Menschen in Ordnung, wenn ein Kind ein Trikot trägt, auf dem eine Biermarke abgebildet ist. Der Vergleich zeigt, dass wir mit unterschiedlichen Maßstäben messen, obwohl es sich in beiden Fällen um gesundheitsschädliche Substanzen handelt. Aus meiner Sicht hat Alkoholwerbung nichts auf Kindertrikots oder bei Jugendsportveranstaltungen zu suchen

Welche Maßnahmen wären notwendig, um den Alkoholkonsum in der Bevölkerung nachhaltig zu senken?

Eine wirksame Maßnahme wäre die Einschränkung der Verfügbarkeit. Hierbei spielen Lizenzvergaben eine wichtige Rolle. In Ländern wie Australien und Großbritannien regeln Alkohollizenzgesetze, welche Bedingungen Geschäfte erfüllen müssen, um Alkohol verkaufen zu dürfen. Dahinter steckt der Gedanke, dass die Anzahl der Lizenzen in Abhängigkeit zur Bevölkerungsdichte begrenzt werden kann. Auch Verkaufszeiten kann man durch Lizenzen regulieren und beispielsweise den Verkauf von Alkohol zu bestimmten Uhrzeiten oder an bestimmten Tagen verbieten.

Wie beurteilen Sie die fiskalische Einflussnahme in Form der Besteuerung von Bier, Wein und Spirituosen?

Die Besteuerung von Alkohol ist für jedes Getränk unterschiedlich geregelt. Wein wird in Deutschland nicht eigens besteuert. Für Bier gibt es eine minimale Besteuerung: Man zahlt für einen halben Liter Bier nicht mal fünf Cent Steuern. Spirituosen sind hingegen deutlich höher besteuert: Für eine 700-Milliliter-Flasche zahlt man in etwa 2,90 Euro Alkoholsteuer. 
Die Mindeststeuersätze für alkoholische Getränke sind auf EU-Ebene geregelt. Deutschland orientiert sich aber nur an den Minimalanforderungen. Gemessen am Durchschnittseinkommen ist Alkohol in kaum einem anderen Land so erschwinglich wie in Deutschland. Das Ziel einer Alkoholsteuer ist, die Erschwinglichkeit der alkoholischen Getränke zu reduzieren. Das gelingt hierzulande nicht mit den aktuellen Steuertarifen – insbesondere bei Bier und Wein.

Gibt es wissenschaftliche Belege dafür, dass höhere Alkoholsteuern den Konsum von Alkohol und damit verbundene Schäden senken?

Ja, diese Belege gibt es massenhaft. Ein Beispiel ist Litauen: Das Land hat in den letzten Jahren die Steuern auf Alkohol mehrfach erhöht. Es gab z. B. 2017 eine große Steuererhöhung auf Bier, Wein und Spirituosen, bei der man beobachten konnte, dass der Alkoholkonsum unmittelbar zurückging. Auch 1.500 Todesfälle, die auf Alkohol zurückzuführen gewesen wären, konnten innerhalb eines Jahres verhindert werden. Polen, die Schweiz, Australien, Thailand und Russland haben ebenfalls in den letzten 30 Jahren die Steuern auf alkoholische Getränke erhöht und festgestellt, dass dies einen positiven Einfluss auf Konsum, Sterblichkeit und die allgemeine Gesundheitsbelastung in der Bevölkerung hat.

Es gibt aber Variationen, je nachdem, wie eine Steuer gestaltet ist und welcher Steuersatz gewählt wird. Wenn eine Steuer z. B. nur bewirkt, dass ein Bier zwei Cent mehr kostet, haben wir nichts gewonnen, da selbst Personen mit einem knappen Budget das nicht wahrnehmen werden. Der Bierkonsum wird sich dadurch nicht verringern.

Begleitetes Trinken hat einen negativen Einfluss

Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Alkoholsurvey 2021) haben 19,8 % der 12- bis 13-Jährigen und 63,3 % der 14- bis 15-Jährigen schon einmal Alkohol getrunken. Etwa jeder Zwölfte der 14- bis 15-Jährigen praktizierte in den letzten 30 Tagen Rauschtrinken, rund jeder Siebzehnte trinkt regelmäßig Alkohol. „Allgemein gilt als gesichert, dass je früher Jugendliche Alkohol konsumieren, umso größer ist das Risiko für eine spätere Abhängigkeit“, schreibt der Bundesrat jetzt. Das begleitete Trinken habe im Vergleich zum konsequenten Konsumverbot keinen positiven, sondern einen klar negativen Einfluss auf den Umgang Jugendlicher mit Alkohol.

Höhere Alkoholsteuern würden vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen treffen.

Das stimmt. Vor dem Hintergrund des Jugendschutzes ergibt das auch Sinn. Jugendliche können sich dann weniger Alkohol mit ihrem Taschengeld kaufen. Außerdem treffen Steuererhöhungen Personen, die besonders viel Alkohol kaufen. Sie wären eventuell wegen eingeschränkter finanzieller Mittel gezwungen, ihren Konsum zu reduzieren.

Bei exakt gleichen Mengen an konsumiertem Alkohol sterben Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Hintergrund häufiger an den Folgen ihres Konsums als andere. Diesem Phänomen liegen diverse Faktoren zugrunde, wie Zugang zur medizinischen Versorgung, Gesundheitswissen und allgemeine Lebensumstände. Doch Steuern helfen, dem entgegenzuwirken. In Litauen konnte der Mortalitätsunterschied bei Männern mit niedrigem und hohem Bildungsabschluss infolge der Steuererhöhung um 13 % reduziert werden. Alkoholkonsum kostet Deutschland jährlich 57 Milliarden Euro – das sind vor allem Kosten in der Gesundheitsversorgung, aber auch Kosten durch Produktivitätsverlust. Mehr Staatseinnahmen aus einer höheren Alkoholsteuer könnten z. B. genutzt werden, um die Krankenkassen zu entlasten. Müssen diese ihre Beiträge nicht erhöhen, kommt das auch Menschen mit niedrigem Einkommen zugute.

Welche Rolle spielt die Alkoholsteuer international bei der Prävention von Alkoholmissbrauch? 

Neben Litauen liefern Schottland und Wales Beispiele für eine gelungene Prävention von Alkoholkonsum. Dort wurde ein Mindestpreis auf Alkohol eingeführt, der die Preise für die günstigsten Alkoholika anhebt. Damit wird unterbunden, dass man in einem Supermarkt z. B. Bier für einen Euro, Wein für zwei Euro oder Wodka für vier Euro findet. Allerdings gehen bei diesem Konzept die Mehreinnahmen in die Taschen der Industrie. Es wäre daher sinnvoll, sowohl die Steuersätze zu erhöhen als auch einen Mindestpreis einzuführen.

Steuersätze für Spirituosen in den EU-Ländern für eine 0,7-Liter-Flasche (Angaben in €)

Land15% vol32% vol38% vol
Finnland5,8312,4314,76
Schweden5,0310,7212,73
Irland4,479,5411,32
Belgien3,146,707,96
Litauen2,926,227,39
Griechenland2,685,716,78
Estland2,184,655,52
Estland2,114,505,35
Lettland2,054,385,20
Frankreich1,994,255,05
Polen1,974,204,98
Niederlande1,924,094,86
Portugal1,683,594,26
Tschechien1,653,534,19
Slowakei1,563,343,96
Ungarn1,543,283,90
Malta1,433,053,62
Slowenien1,392,963,51
Deutschland1,372,923,47

Quelle: Bundesverband der Deutschen Spirituosen-Industrie und -Importeure

Welche politischen Hürden sehen Sie für eine Reform der Alkoholsteuer in Deutschland?

Der politische Wille fehlt. Es gibt einzelne Politikerinnen und Politiker, die die Notwendigkeit sehen, alkoholpolitisch etwas zu unternehmen. Doch deren Vorhaben scheitern oft schon auf nächsthöherer Ebene. In Litauen hat man gesehen, dass es politische Entscheiderinnen und Entscheider braucht, die sich stark für das Thema einsetzen. Es kann einen Wandel geben, das haben wir beim Thema Cannabis gemerkt. Aber dafür braucht es bei den politischen Akteurinnen und Akteuren Standhaftigkeit gegen die Einflussnahmen, die im Hintergrund passieren. Mit dem Deutschen Weinbauverband, dem Deutschen Brauer-Bund sowie den Spirituosenherstellern gibt es hierzulande drei sehr starke Alkoholindustriezweige, die kein Interesse an höheren Alkoholsteuern haben.

Quelle: Medical-Tribune-Interview