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Gehirndoping gegen Jobstress nimmt zu

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Gina Sanders / Fotolia Gina Sanders / Fotolia
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Leistungsanforderungen, Angst um den Job und Furcht vor Versagen setzen Arbeitnehmer unter Druck. Ausgeglichen wird mit Nikotin, Alkohol und – was besorgniserregend ist – zunehmend mit Pillen für die geistige Fitness. Nebenwirkungen eingeschlossen.

Nach Angaben des 15. Fehlzeiten-Reports des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), dem die Daten von elf Millionen erwerbstätiger Kassenmitglieder zugrunde liegen, ist die Zahl der Fehltage aufgrund körperlicher Erkrankungen rückläufig. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage, die durch Rauchen, Alkoholmissbrauch und die Einnahme von leistungssteigernden Mitteln (Neuroenhancement) verursacht wurden, stieg dagegen in den letzten zehn Jahren um insgesamt 17 %.


Fast die Hälfte der suchtbezogenen Ausfälle wurde von Alkohol und 5,4 % von einem sog. multiplen Substanzgebrauch verursacht. Die AOK geht davon aus, dass die Zahlen die „Spitze des Eisbergs“ zeigen, da nur psychische Auffälligkeiten aufgrund einer Suchterkrankung von Ärzten erfasst werden, nicht aber die dazugehörigen körperlichen Schäden. So gelte ein Alkoholkranker mit Leberzirrhose nicht zwangsläufig als Suchtkranker, obwohl er es gegebenenfalls sei.

Neue Süchte auf dem Vormarsch

Für Uwe Deh, Geschäftsführender Vorstand beim AOK-Bundesverband, sind die Daten des Reports ein Beleg dafür, dass die vielen Aktivitäten gegen die Sucht keine nachhaltige Wirkung entfalten. „Neue Süchte sind sogar auf dem Vormarsch“, sagte er bei der Vorstellung des Reports. Für ihn ist klar: Der Arbeitsplatz wirkt begünstigend auf die Sucht­entwicklung, z.B. wegen größerer Herausforderungen für die Arbeitnehmer bei Mobilität und Verfügbarkeit. Die Bereitschaft zum „Gehirndoping am Arbeitsplatz“ steige enorm, die Hemmschwelle sinke.

Drogenkonsum bei Arbeitnehmer

Doch Deh ist überzeugt davon, dass die Arbeitsumgebung auch am wirksamsten für Interventionen ist. Er kritisiert deshalb den fehlenden politischen Rückenwind für eine praxisnahe Präventions- und Versorgungsforschung: „Das muss sich dringend ändern.“ Bisher flössen 95 % der Mittel in die Grundlagenforschung. Deh fordert zudem, Neuroenhancer und andere leistungssteigernde Mittel im Leitfaden des GKV-Spitzenverbandes zur Prävention stärker zu berücksichtigen.

Gefährdet durch Arbeitssucht oder Desillusionierung

Bei einer WIdO-Befragung von 2000 Erwerbstätigen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren gaben im Frühjahr 5,3 % der Befragten an, täglich Alkohol zu trinken (siehe Tabelle). Rund ein Drittel raucht gelegentlich oder regelmäßig. 5 % der Befragten hatten in den letzten zwölf Monaten zur beruflichen Stressbewältigung Medikamente wie Ritalin, Modafinil oder Donepezil, aber auch Amphetamine zur Leistungssteigerung eingenommen. Bei den unter 30-Jährigen war es jeder Zwölfte.


Laut Helmut Schröder, stellvertretender WIdO-Geschäftsführer, lassen sich 10,8 % der Befragten nach der Definition einer niederländischen Studie unter den Aspekt „Arbeitseifer“ und 15 % unter „Getriebenheit“ einordnen. Bei den Arbeitseifrigen reicht die Spannbreite von „desillusioniert“ (geringer Arbeitseifer) bis relativ hoher Arbeitseinsatz (Arbeitssucht). Getriebene können sich nicht entspannen, sie haben Schuldgefühle, Urlaub genommen zu haben.


„Der höhere Konsum von Medikamenten, Alkohol oder Tabak bei den desillusionierten und übermäßig arbeitsorientierten Beschäftigten weist auf ein deutlich gesundheitsgefährdendes Verhalten hin“, so Schröder. Arbeitssüchtige sind z.B. von muskuloskelettalen und psychosomatischen Beschwerden stark betroffen. Sie leiden am häufigsten unter Erschöpfung, Lustlosigkeit und Ausgebranntsein.


Dass jeder Fünfte von ihnen Verständnis dafür hat, dass in beruflichen Stresssitua­tionen ohne ärztlichen Rat Psychopharmaka eingenommen werden, verwundert da nicht. Schröder fordert deshalb nachdrücklich, auf das jeweilige Beschäftigtenprofil im Unternehmen zugeschnittene Präventionsprogramme zu entwickeln.

Bundesweit 1,8 Millionen alkoholbedingte Fehltage

Ein Beispiel für eine Vorreiterrolle in Sachen Prävention sind die Berliner Stadtreinigungsbetriebe. Seit 17 Jahren gibt es hier einen klaren Handlungsrahmen für den Umgang mit Alkohol- oder anderen Suchtmittelauffälligkeiten am Arbeitsplatz sowie eine Dienstvereinbarung, die ein absolutes Alkoholverbot am Arbeitsplatz festschreibt.


Die Techniker Krankenkasse (TK) weist in ihrem aktuellen Gesundheitsreport übrigens ebenfalls mehr Arbeitsausfälle durch Suchtfolgen aus. Die Diagnose „F10 – psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ steht auf Platz 47 der Krankschreibungen. Durchschnittlich blieben Versicherte mit dieser Diagnose sieben Wochen (49,7 Tage) dem Job fern. Insgesamt verzeichnete die TK 235 765 alkoholbedingte Fehltage. Dies entspricht – hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung – 1,8 Millionen Ausfalltagen bundesweit.


Quelle: Pressekonferenz AOK-Bundesverband, Berlin, 2013

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