Homöopathie Hat Hahnemanns Heilkunde noch eine Berechtigung?

Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen, wozu auch Homöopathie gehört, sind im SGB V ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Darüber hinaus können Krankenkassen im Rahmen ihrer eingeräumten Wettbewerbsfreiheit sogar die Kosten von gesetzlich ausgeschlossenen Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen gegen spezielle Prämienzahlung der Versicherten übernehmen. Diese nicht sehr konsistenten Regelungen des Gesetzes spiegeln die unterschiedliche Einschätzung der medizinischen Bedeutung der Homöopathie wider.
Der Patient hat Therapiefreiheit
Allerdings regelt das Krankenversicherungsrecht nur die Frage, wer die Kosten einer Behandlung trägt. Ob ein Arzt eine Behandlung – unabhängig von der Kostenfrage – überhaupt vornehmen darf, richtet sich aber nach dem Arzthaftungsrecht. Und hier ist die Rechtslage mittlerweile konsistent und im 21. Jahrhundert angekommen. Für die heutige arzthaftungsrechtliche und ethische Beurteilung dieser besonderen Therapierichtungen sind insbesondere zwei Maßstäbe von überragender Bedeutung: Die Evidenzbasierung [1] und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten [2]. Das Selbstbestimmungsrecht gebietet es, den Patienten umfassend über die Therapiemöglichkeiten aufzuklären. Hierzu bedarf es stets einer Diagnostik, die dem medizinischen Standard entspricht. Der medizinische Standard orientiert sich an dem Konzept der Evidenzbasierung. Erst nach Durchführung einer gemäß medizinischem Standard vorgenommenen Diagnostik und umfassenden Aufklärung darf der Patient dann in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts frei darüber entscheiden, welche Therapiemöglichkeit er schließlich in Anspruch nehmen will. Insoweit hat nicht der Arzt "Therapiefreiheit", sondern der Patient [3].
Evidenz für die Wirkungslosigkeit
In dieser Situation können das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und das Konzept der Evidenzbasierung miteinander in Konflikt geraten: Einerseits gehört es zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten, ohne Rücksicht auf die Position der Schulmedizin auch eine homöopathische Behandlung, aber auch eine sonstige alternativ-medizinische Behandlung in Anspruch nehmen zu dürfen. Andererseits müssen wir unter dem Gesichtspunkt einer evidenzbasierten Gesundheitsversorgung zur Kenntnis nehmen, dass für die Wirksamkeit der Homöopathie nur ein sehr geringes Evidenzlevel besteht [4]. Zwar kann aus dem Fehlen eines ernsthaften Wirksamkeitsnachweises nicht ohne weiteres auf eine fehlende therapeutische Wirksamkeit geschlossen werden [5]. Jedoch stellt sich angesichts der verhältnismäßig eindeutigen Studienlage die Frage, ob man nicht ausnahmsweise sogar von einer gewissen Evidenz für die physiologische Wirkungslosigkeit von (Hochpotenz-)Homöopathika ausgehen muss.
Der Patient muss umfassend aufgeklärt werden
Will ein Patient sich – z. B. auf Anregung seines Arztes – homöopathisch behandeln lassen, entscheidet das Medizinrecht einen Konflikt zwischen Selbstbestimmung und Evidenzbasierung wie folgt: Als vom medizinischen Standard abweichende Behandlung ist die homöopathische Behandlung grundsätzlich dann zulässig, wenn der umfassend aufgeklärte Patient ausdrücklich in ihre Durchführung eingewilligt hat (informed consent) [6]. Allerdings muss der Arzt ihm zuvor unmissverständlich deutlich gemacht haben, dass er mit der Behandlung die Grenzen der Schulmedizin überschreiten wird. Außerdem muss er ihn über mögliche Behandlungsalternativen informieren, die den medizinischen Standard erfüllen. Angesichts der derzeitigen Studienlage muss der Arzt den Patienten darüber aufklären, dass es sich bei einer homöopathischen Behandlung nach schulmedizinischen Maßstäben um eine pharmakologisch wirkungslose Behandlung handelt. Er darf aber zugleich darauf hinweisen, dass dies von manchen Vertretern der Alternativmedizin anders gesehen wird. Die Anforderung an die Aufklärung des Patienten ist weniger intensiv bei leichten Erkrankungen, die sich üblicherweise auch ohne Behandlung erledigen. Gleiches gilt bei Erkrankungen, bei denen die schulmedizinische Therapie nur einen sehr geringen therapeutischen Vorteil bringt, wie z. B. bei Erkältungskrankheiten. Dagegen muss die Aufklärung sehr umfassend sein, wenn eine schulmedizinische Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich ist und umgekehrt die homöopathische Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht (bzw. nicht allein) wirksam sein kann. Die größte Gefahr besteht bei der Homöopathie nämlich darin, dass nach dem medizinischen Standard angezeigte Behandlungen unterbleiben [7]. In Extremfällen muss der Arzt trotz umfassender Aufklärung und Einwilligung des Patienten eine homöopathische Behandlung aus rechtlichen und ethischen Gründen verweigern. Dies gilt insbesondere dann, wenn dem Patienten durch das Unterlassen einer schulmedizinischen Behandlung schwerwiegende Gesundheitsgefahren drohen.
Homöopathie als heilbringender Plazeboeffekt
Die Zeiten, in denen eine homöopathische Behandlung unter Berufung auf ärztliche Therapiefreiheit unter gleichen Voraussetzungen wie eine dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung erbracht werden durfte, sind dagegen längst vorbei. Ob wir es wollen oder nicht: Angesichts einer bloß marginalen Evidenz kann das homöopathische Wirkprinzip im 21. Jahrhundert keine tragfähige Grundlage sein, um homöopathische Behandlungen zu erbringen, ohne dabei den Patienten ausdrücklich über den Außenseiterstatus zu informieren und auf Alternativen nach dem medizinischen Standard hinzuweisen.
Wir sind aber dennoch der Auffassung, dass die Homöopathie auch im 21. Jahrhundert nicht von vornherein aus dem ärztlichen Alltag verbannt werden sollte. In bestimmten Situationen hat sie sich nämlich als pragmatische Möglichkeit erwiesen, das heilbringende Potenzial des Plazeboeffekts in den ärztlichen Alltag zu implementieren [8]. Erst in jüngster Zeit wird das therapeutische Potenzial einer Plazebobehandlung zunehmend thematisiert [9].
Eine Plazebobehandlung halten wir nicht per se für etwas Schlechtes. Auch wenn sie selbstverständlich ihre medizinischen Grenzen hat, ist ihre therapeutische Wirksamkeit jedenfalls besser belegt als die Wirksamkeit der Homöopathie. Das Problem der Plazebobehandlung war jedoch die fehlende Implementierung in die Praxis, die u. a. auf die ethischen Probleme zurückzuführen ist. Wir sehen in homöopathischen Behandlungen aber eine pragmatische Möglichkeit, die ethischen Probleme bei der Plazebotherapie zu umgehen. Nach unserer Auffassung umfasst der informed consent des Patienten in eine normale homöopathische Behandlung nämlich auch den gezielten Einsatz eines Homöopathikums als (Pseudo-)Plazebo. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass ein Plazeboeffekt ohnehin bei jeder Behandlung, also auch bei schulmedizinischen Behandlungen, auftreten kann. Verordnet ein Arzt Homöopathika gezielt als (Pseudo-)Plazebo, täuscht er den Patienten insofern nicht, als er ja objektiv eine homöopathische Behandlung durchführt.
Patienten individuell behandeln
Auch im 21. Jahrhundert will niemand eine ausschließlich technikbasierte Medizin, die sich als Sklave evidenzbasierter Algorithmen versteht. Wir wollen vielmehr eine Medizin, die auf die individuelle Situation des Patienten sowie seine persönlichen und auch emotionalen Bedürfnisse eingeht, ohne dabei die wissenschaftliche Nachweisbarkeit außer Acht zu lassen. Eine dem medizinischen Standard entsprechende Diagnostik und eine umfassende Aufklärung des Patienten sind unerlässlich. Wir müssen dennoch nach "schulmedizinischem Verständnis" anerkennen, dass in manchen Fällen allein die ritualisierte Einnahme von (Pseudo-)Plazebos wohltuende und heilbringende Wirkung entfalten und manchmal auch ein gewisses emotionales Bedürfnis befriedigen kann [10]. Dieser Effekt kann durchaus auch dann bestehen, wenn der aufgeklärte Patient über die physiologische Wirkungslosigkeit der Behandlung Bescheid weiß [12]. Erhebt man an eine homöopathische Behandlung nur noch den medizinischen Anspruch, die therapeutischen Wirkungen des Plazeboeffekts auszulösen, kann ihre Durchführung auch im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß sein!
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (3) Seite 84-86
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.