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Hausarzt und Notfallmediziner recherchiert medizinische Situation in Nordsyrien

Gesundheitspolitik Autor: Anouschka Wasner

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Dr. Michael Wilk ist Hausarzt in einer alteingesessenen Gemeinschaftspraxis in einem zentral gelegenen Viertel Wiesbadens sowie Leitender Notarzt der Landeshauptstadt. Im Dezember 2014 reiste er mit einer Hilfsorganisation nach Rojava, eine kurdische Region in Nordsyrien. Medical Tribune hat mit ihm über seinen Einsatz gesprochen.

Dr. Wilk, kurz vor Weihnachten sind Sie für die Hilfsorganisation PHNX im kurdischen Kanton Cizire nahe der Stadt Kobane gewesen, um dort – mit Blick auf weitere Hilfsmaßnahmen – die medizinische Versorgungslage zu recherchieren. Wie ist es zu diesem Einsatz gekommen – und wie haben Sie Ihre Abwesenheit organisiert?

Dr. Wilk: Die Entscheidung für diese Reise ist kurzfristig gefallen. Da ich aber nur knapp zehn Tage abwesend war und mein Engagement bei meinen beiden Kollegen – wie auch bei meinen Patienten – auf große Zustimmung gestoßen ist, gab es mit der Vertretung keine Probleme. Ich bin auch in anderen Bereichen sozialpolitisch aktiv und für mich waren die Nachrichten aus der Region nicht auszuhalten. Deswegen habe bei Medico International nachgefragt, ob es für mich als Notfallmediziner einen sinnvollen Einsatz gibt. Medico hat mich an die Organisation PHNX verwiesen.

Es gibt viele Krisengebiete in der Welt, warum ausgerechnet Syrien bzw. das kurdische Rojava?

Dr. Wilk: Zu diesem Zeitpunkt war die Situation in Kobane gerade eskaliert, das Thema war sehr präsent. Rojava ist aber auch eine Region, in der so etwas wie ein soziales Experiment stattfindet: Eine zuvor zentralistisch-strukturierte, archaisch geprägte Region beginnt sich durch emanzipatorische Einflüsse zu wandeln, es wird versucht, eine neue Sozialstruktur aufzubauen.

Wir sind z.B. aus dem nord­irakischen Erbil eingereist, aus einer Region mit konservativen Clanstrukturen. Dort war die öffentliche Abwesenheit von Frauen sehr auffallend. Kaum waren wir über den Grenzfluss, wurden wir von Soldaten begrüßt, und zwar gleichermaßen Frauen wie Männern. Wir haben später erfahren, dass auch wichtige Ämter und Funktionen mit männlich-weiblicher Doppelspitze besetzt sind.

Was war Ihr konkreter Auftrag vor Ort?

Dr. Wilk: Ich sollte recherchieren, welche Substanz an medizinischer Versorgung vorhanden ist und was fehlt – und zwar um gezielte Hilfsmaßnahmen einleiten zu können. Wir haben zusammen mit dem Kurdischen Roten Halbmond alle wesentlichen Gesundheitseinrichtungen des Kantons besucht und ihre Ausstattung und Mängel festgehalten.

Wie viele Menschen müssen in der Region versorgt werden?

Dr. Wilk: Das Gebiet ist circa 250 km lang und 40 km breit und nach Norden zur Türkei mit scharfen Grenzanlagen abgeriegelt. Es halten sich zurzeit geschätzt zwei Millionen Menschen in dem Gebiet auf – geschätzt, da unklar ist, wie viele jesidische Flüchtlinge es dort gibt. Sie sind im Sommer durch einen freigeschossenen Korridor aus einem weiter nördlich gelegenen Gebirge geflüchtet. Der Einsatz der Zivilbevölkerung war dabei unglaublich, es sind 5000 bis 6000 Zivilfahrzeuge von der Bevölkerung zur Fluchthilfe zum Sinjagebirge gebracht worden!

Wie sieht also die Gesundheitsversorgung in der Region aus?

Dr. Wilk: Die Situation ist deutlich geprägt von Kriegsereignissen. Ganz im Westen, in der frontnahen Stadt Sere Kaniye, gibt es z.B. ein ehemaliges Regierungskrankenhaus, das zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen von den Vorläufern des ISIS besetzt wurde und dann von syrischen Regierungstruppen beschossen wurde. In diesen Ruinen agiert seit zwei Jahren ein Allgemein-Chirurg, der ununterbrochen nicht nur die relativ vielen Kriegsverletzten versorgt, sondern auch alles andere übernommen hat, also z.B. Impfungen der Kinder oder die Versorgung der vermehrten Leishmaniosefälle. Dieses Krankenhaus versucht man jetzt wieder aufzubauen.

Und in der Nähe von Qamislo befindet sich zwar ein Regierungskrankenhaus unter syrischem Machteinfluss, das können die kurdischen Bewohner aber nicht nutzen. Deswegen versucht die Regionalregierung von Cizire in der Nähe ein anderes Krankenhaus aufzubauen. Dort fehlen aber noch die OP-Ausstattung, Röntgengeräte, der Kernspin – fast alles.

Insgesamt stehen der Bevölkerung drei Krankenhäuser zur Verfügung. Aber die Liste der fehlenden Geräte fängt beim Operationsbesteck an und geht bis zu Kreisteilen, C-Bogen, MRT- und CT-Geräten. Konkret angelaufen ist bereits die Anfrage nach Ersatzteilen bei deutschen Herstellern.


Wie gut ist die Versorgung mit Medikamenten in Cizire?

Dr. Wilk: In einem Gebiet mit zwei Millionen Menschen gibt es auch jede Menge chronische Krankheiten: Diabetes, Rheuma, Infektionskrankheiten, alles, was man hier im Querschnitt der Bevölkerung auch findet. Das Problem ist, dass die vermögenderen Teile der Bevölkerung geflohen sind – wer jetzt noch da ist, gehört mehrheitlich der ärmeren Schicht an. In den noch vorhandenen Apotheken kann man zwar Medikamente bekommen, aber nur für teures Geld.

Der Kurdische Halbmond hat deswegen jetzt in größeren Städten Apotheken eingerichtet, in denen bedürftige chronisch Kranke sich umsonst mit den nötigen Medikamenten versorgen können. Wer als bedürftig gilt, wird durch Komitees in den Stadtteilen festgelegt. Dabei werden alle versorgt, die kurdische wie auch die arabisch-stämmige Bevölkerung.

Kann man die Situation der Medikamentenversorgung von Deutschland aus unterstützen?

Dr. Wilk: Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass finanzielle Unterstützung sinnvoller ist als Medikamentenspenden. Es gibt Möglichkeiten, Medikamente in der Türkei zu besorgen, und zwar zu einem weit niedrigeren Preis als bei uns. Deswegen hat es zu unseren ersten Maßnahmen gehört, eine zuverlässige Anlaufstelle in der Türkei einzurichten, die an den Kurdischen Roten Halbmond angekoppelt ist, die Gelder abrufen kann und Medikamente und Bedarfsmaterial in die Region leiten kann – trotz verminter Grenze. So soll dann auch die Dauerversorgung der chronisch Kranken sichergestellt werden.

Gibt es denn überhaupt noch funktionierende Arztpraxen in der Region?

Dr. Wilk: Von den niedergelassenen Ärzten sind viele geflohen und ich habe gehört, dass Ärzte verfolgt und getötet wurden. Es gibt aber auch jetzt noch Kollegen, die operierende Privateinrichtungen betreiben, z.B. in Qamislo und Amude. Sie organisieren auch Untersuchungseinheiten für die ärmere Bevölkerung, um zur Gesundheitsversorgung beizutragen.

Können denn Ärzte aus Europa, aus Deutschland helfen?

Dr. Wilk: Es besteht also großer personeller Bedarf – es gibt z.B. im ganzen Gebiet keinen einzigen Neurochirurgen mehr. Wir versuchen im Moment Kriegsverletzten mit peripheren Nervenverletzungen oder Plexusverletzungen, denen mit einer Nachoperation entscheidend weitergeholfen werden könnte, neurochir­urgische Eingriffe zu vermitteln. Das ist also ein konkreter Appell an Neurochirurgen, sich zu überlegen, ob sie für z.B. zwei Wochen dort gezielt helfen wollen. Solche Eingriffe könnten im Krankenhaus in Derek zusammen mit der deutschen Organisation PHNX und dem Kurdischen Roten Halbmond realisiert werden.

Was muss ein Arzt mitbringen für einen solchen Einsatz? Braucht es überdurchschnittliche Risikofreude?

Dr. Wilk: Man bewegt sich dort sichtlich in einem Kriegsgebiet. Es gibt viele Bewaffnete auf der Straße sowie Autokontrollen und Straßensperren. Trotzdem habe ich mich während meines Aufenthaltes nicht persönlich bedroht gefühlt. Fachlich gesehen werden nicht nur, aber besonders Neurochirurgen benötigt – theroretisch am besten ein ganzes Op.-Team mit dem entsprechenden Equipment. Gesucht wird außerdem dringend eine Vertretung für drei, vier Wochen für den Kollegen in Sere Kaniye, der seit zwei Jahren durchgehend die Stellung hält. Hier braucht es einen Allgemeinchirurgen mit allgemeinen notfallmedizinischen Kenntnissen – also einen echten Allrounder. Und es werden dringend Krankengymnasten gesucht, die in der Lage sind, in Crashkursen von z.B. drei Wochen Menschen in Krankengymnastik zu schulen, um so die Versorgung der Kriegsverletzten zu verbessern und Folgeschäden zu mildern. Sprachkenntnisse sind von großem Vorteil, also Arabisch oder Kurdisch. Wobei einige Kollegen dort auch Englisch sprechen!

Quasi unlösbar sind Probleme wie Chemo- oder Strahlentherapien – das gilt für alle Krisengebiete der Welt – oder die dringend benötigte psychotherapeutische Behandlung der Kriegstraumatisierten.

Wie geht es für Sie persönlich weiter, was Ihren Einsatz betrifft?

Dr. Wilk: Sollte sich wieder ein konkreter Bedarf ergeben, bei dem meine Person gut eingesetzt ist, kann ich mir vorstellen, wieder dorthin zu fahren – etwa wenn es darum geht, Leute in der Notfallmedizin auszubilden. In die Region zu fahren, ohne dass sich konkrete Hilfe daraus ergibt, ist eher belastend für die Menschen als hilfreich.

Das Interview wurde geführt von MT-Redakteurin Anouschka Wasner

Christian Ditsch Christian Ditsch
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