Heiter bis wolkig Ich bin der Chef, du bist ein Nichts

Als Schulabgänger mit Bestnote und der hinlänglich bekannten "Ab jetzt gehört die Welt mir"-Hybris schlug ich nur eine Woche nach Beendigung meiner Schulkarriere in einem örtlichen Krankenhaus auf. In einem Pflegepraktikum wollte ich meine idealisierten Berufsvorstellungen mit der Lebenswirklichkeit abgleichen. Nach sechs Wochen fand ich mich in der Chirurgie wieder. Der dortige Chef, nennen wir ihn Huber, war ein stadtbekannter Choleriker mit Sauerbruchscher Attitüde. Als ich eines Morgens vollkommen ahnungslos zu Hilfeleistungen in den OP kommandiert wurde, schlüpfte ich in vorauseilender Hektik versehentlich in die beschrifteten Clogs des an diesem Tag nicht anwesenden Chefs.
Als die leitende OP-Schwester dieses Fauxpas gewahr wurde, herrschte sie mich an, wessen Schuhe ich da anhätte. Meine flapsig-ahnungslose Antwort, "na, die vom Huber halt", versetzte die arme Schwester in einen hysterischen Grenzzustand. Die Schuhe des "Herrn Chefarztes Dr. Huber" unberechtigterweise zu tragen, so tönte sie spitz, komme einer Gotteslästerung gleich. Da war mir schlagartig klar, dass ich als unbedeutender Provinzabiturient nicht nur falsch beschuht war, sondern mich auch an der untersten Stufe des Medizinbetriebs anzustellen hatte.
Später, bei der Famulatur, konnte ein sehr menschlicher Hausarztkollege mein Bild dieser Rangordnung wieder deutlich relativieren. Dies sollte sich jedoch ändern, als ich nach Abschluss meines Studiums in einer großen Universitätsklinik landete. Da hörte ich dann von einem Gefäßchirurgen, der mit Skalpellen nach seinen Assistenten warf und bei den Oberärzten hysterische Angstattacken am Patientenbett auslöste, weil sie vor der gesamten Mannschaft in beleidigender Weise "klein" gemacht wurden.
Ich selbst hatte genügend unruhige Nächte, wenn ich wusste, dass ich am folgenden Tag bei dem einen oder anderen Vorgesetzten zur Assistenz am Operationstisch vergattert war. So begriff ich im Lauf meiner "Lehrjahre", dass es für mein Seelenleben besser ist, Chef in eigener Praxis zu werden. Das war zwar ein folgenreicher und gewiss nicht leichter Schritt, für mich ist es aber bis heute der beste Weg gewesen.

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (19) Seite 91
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