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„Ist ein Arzt an Bord?“

Autor: Dr. Anja Braunwarth

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Der Gurt sitzt fest, die Maschine rollt zur Startbahn. Ich bin nach zwei Wochen in Süditalien auf dem Heimweg. Erste Etappe ist der Flug von Brin-disi nach Rom. In ganz Italien herrscht Ausnahmezustand: Vor drei Tagen ist Papst Johannes Paul II. gestorben und ich rechne mit Chaos am römischen Flughafen. Bis dahin lehne ich mich aber erst einmal entspannt zurück und vertiefe mich in mein Buch. Den Durchsagen über Flugzeit und Wetterbedingungen lausche ich nur mit halbem Ohr. Doch kaum sind zehn Minuten vergangen, klingt plötzlich die Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher: „Ist ein Arzt an Bord?“

Vorsichtig schaue ich mich um, ob sich vielleicht irgendwo ein Kollege erhebt, aber nichts tut sich. Ich hole noch mal tief Luft, dann melde ich mich bei den Flugbegleitern. Wäre ich mit einer amerikanischen Fluggesellschaft unterwegs, würde ich jetzt schon die drohende Klage des Patienten fürchten. Die Italiener dagegen haben noch ein relativ ausgeprägtes Vertrauen in die ärztliche Kunst. So werde ich auch beinahe ehrfurchtsvoll durch die Reihen geleitet.

Tod des Papstes auf den Magen geschlagen
Der Patient ist ein junger, gut gekleideter Italiener, der leichenblass in seinem Sitz zusammengesunken ist und mir ängstlich entgegenblickt. Auf meine Frage, was ihm fehlt, kann er mir gerade noch antworten, dass ihm schlecht sei, bevor er mir deutlich beweist, wie übel ihm ist …

Eine der Stewardessen rennt davon, um Papiertücher und Reinigungsmittel zu holen, die andere habe ich bereits nach dem Notfallkoffer geschickt. In der Zwischenzeit versuche ich, aus dem jungen Mann herauszubekommen, was er in den vergangenen Stunden zu sich genommen hat, ob er irgendwelche Medikamente einnehmen musste oder unter sonstigen Krankheiten leidet.

Mühsam bringt er hervor, er habe nur ein paar Nüsse gegessen, aber jetzt, nach dem Erbrechen, gehe es ihm schon viel besser. Ich frage mich, warum er dann noch derart verzweifelt ist, bis er plötzlich erzählt, er sei Novize, also in der Ausbildung zum Mönch, und auf dem Weg zur Beerdigung des Papstes. Mir schwant, dass ihm in erster Linie der Tod des katholischen Oberhauptes auf den Magen geschlagen hat. Dennoch würde ich ihm gerne etwas gegen seine Übelkeit geben. Doch der Notfallkoffer lässt auf sich warten. Stattdessen werde ich mehrfach vom Personal gefragt, ob der römische Flughafen einen Rettungswagen bereitstellen soll und ob ich mit dem Flugkapitän sprechen möchte.

Seelsorger statt Rettungswagen
Für einen Rettungswagen gibt es nun wahrlich keine Veranlassung, eher würde ich einen Seelsorger bestellen. Wie der Pilot mir helfen soll, ist mir auch ein Rätsel, mir scheint es wichtiger, dass er die Maschine sicher runterbringt. Also lehne ich beide Vorschläge dankend ab. Dann taucht doch noch der Koffer auf, aber der Schlüssel ist verschwunden. Hektisch schwirren die Stewardessen auf der Suche danach hin und her. Mir bleibt in der Zwischenzeit nur, beruhigend auf den verstörten Novizen einzureden.

Endlich – die Damen sind fündig geworden, der Koffer ist auf. Die Verteilung des Inhaltes entspricht in etwa der sympathischen, aber etwas unorganisierten italienischen Mentalität: Nichts liegt an einem festen Platz, alles ist bunt durcheinander gepurzelt. Aber es findet sich tatsächlich ein Medikament gegen Übelkeit, das der junge Mann dankend entgegennimmt.
Ich will mich erleichtert zurückziehen, doch er greift nach meiner Hand und bittet mich, ihn nicht allein zu lassen.

Wir sind aber schon im Landeanflug, also setze ich mich auf den nächsten freien Platz drei Reihen hinter ihn. Ob es an meinem oder am göttlichen Einfluss liegt – nach wenigen Minuten hat er sich offensichtlich vollständig erholt und nimmt neben mir Platz.

Auf einmal spricht er auch fließend deutsch und plaudert charmant mit mir über seinen beruflichen Werdegang sowie die gegenwärtige allgemeine Trauer unter den Gläubigen.
Dann erscheint wieder eine der Flugbegleiterinnen. Sie drückt mir einen zerknitterten Briefumschlag in die Hand und bittet mich, meinen Namen und die Adresse zu notieren. In der Regel würde sich die staatliche italienische Fluggesellschaft bei Ärzten, die an Bord helfen, bedanken. Mit einem Lächeln fügt sie noch hinzu, dass sie es aber nicht garantieren kann, was mich in Anbetracht dieses „Notizzettels“ nicht wundert.

„Darf ich jetzt meinen Krimi lesen?“
Wenige Minuten später landen wir in Rom. Ich verabschiede mich von allen Beteiligten, wünsche dem jungen Mann alles Gute und bin froh, als ich endlich im Terminal angekommen bin. Das Chaos dort ist geringer als erwartet. Nach kurzer Zeit geht es schon weiter, und es gelingt mir tatsächlich, den Flug nach Frankfurt völlig unbehelligt mit meinem Krimi zu verbringen.

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