Trauma in der Psychiatrie Keine Angst vor Nähe!

Kolumnen Autor: Prof. Dr. Dagny Holle-Lee

Was wir bei Depression, Sucht, Angsterkrankung oder Persönlichkeitsstörung sehen, ist oft die Spitze einer neurobiografischen Reaktionspyramide. Was wir bei Depression, Sucht, Angsterkrankung oder Persönlichkeitsstörung sehen, ist oft die Spitze einer neurobiografischen Reaktionspyramide. © SOLDATOOFF - stock.adobe.com

Trauma? Dafür sind wir nicht zuständig – so denken unserem Kolumnisten zufolge viele Kolleginnen und Kollegen aus der Psychiatrie. Dabei kann es sich lohnen, nach den Ursachen von Wut, Panik oder dissoziativem Erleben zu suchen.

In der Psychiatrie gibt es ein Wort, das viele ungern aussprechen: Trauma. Nicht weil es so selten wäre – im Gegenteil. Sondern weil es sich für manche anfühlt wie eine Grenzüberschreitung in fremdes Therapiegelände. Trauma, das ist für viele eine Domäne der Kolleginnen und Kollegen aus der Psychotherapie – möglichst mit psychodynamischer Ausbildung, Zusatzzertifikat und idealerweise „Stabilitätsgarantie“. Doch damit machen wir es uns zu einfach.

Was wir bei Depression, Sucht, Angsterkrankung oder Persönlichkeitsstörung sehen, ist oft die Spitze einer neurobiografischen Reaktionspyramide. Ganz unten im Fundament lagert nicht selten ein komplexes, meist menschengemachtes Trauma, sei es relational, entwicklungsbedingt oder durch Grenzverletzungen im späteren Leben erworben. Und während wir in der Psychiatrie schnell zu SSRI, Antipsychotika oder Benzodiazepin greifen, meiden wir die Frage: „Was hat dieser Mensch durchgemacht, wie hat er überlebt und was kann ich jetzt therapeutisch tun?“ Der Körper vergisst nichts – das Gehirn aber kann lange schweigen.

Dabei hätten gerade wir den besten Zugang. Traumatisierte Personen kommen oft nicht mit dem Etikett „Trauma“, sondern mit Schlafstörungen, Wut, Panik oder dissoziativem Erleben. Die Symptome, die wir sehen, sind oft der bestmögliche Fehler, den ein Mensch als Überlebensstrategie entwickelt hat. Nicht unser Rückzug ist gefragt, sondern unser Verstehen: „Wie lange mussten Sie so funktionieren, als wäre nichts gewesen?“

Ich habe in den letzten Jahren viel von Kolleginnen und Kollegen gelernt, die traumatherapeutisch arbeiten – etwa mit der Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT) oder mit Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR). Imagination, Stimulation und Narration helfen dabei, innere Bilder aus der Erstarrung zu lösen. Was sich kompliziert anhört, ist erstaunlich praxistauglich: Wenn jemand während des stationären Aufenthalts plötzlich in Panik gerät, hilft manchmal nicht ein weiteres Medikament, sondern ein kurzes, gezieltes inneres Bild: ein schützendes Selbst, das zurückblickt – oder eine veränderte Perspektive auf die traumatische Szene.

Ein Patient, den ich kennenlernte, war mehrfach stationär. Stets hieß es: „Keine Traumakonfrontation – zu instabil.“ Ein Kollege, fachlich exzellent, scheute sich, das Trauma anzusprechen: „Ich will nichts aufbrechen, was ich nicht kontrollieren kann.“ Eine nachvollziehbare Sorge. Nach einer IRRT-Fortbildung wagte er einen behutsamen Schritt: eine Imaginationsübung zur Kontaktaufnahme mit einem „starken, schützenden Ich-Anteil“. Keine Konfrontation, kein Durcharbeiten. Nur vorbereitendes Rescripting. Innerhalb von Minuten sank die innere Spannung.

Der Kollege war berührt, nicht überfordert. Und es erstaunte ihn, wie stabil der Patient blieb. Zehn Minuten können mitunter mehr bewirken als eine ganze Woche auf Station. Denn auch in der Traumatherapie gibt es alte Hüte und Mythen: Nicht jede Bearbeitung verlangt nach einem monatelangen Setting.

Natürlich brauchen wir die Zusammenarbeit. Aber wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung ziehen, indem wir den Patienten an die überlastete niedergelassene Traumatherapeutin verweisen oder an die entlegene Spezialklinik mit zehn Monaten Wartezeit. Traumakompetenz sollte nicht optional sein, sondern Kern psychiatrischer Verantwortung. Oder wissen wir etwa nicht, wie das geht? Wir haben das Wissen, unsere Erfahrung und unsere Fähigkeit zur Regulation. Ja, wir brauchen mehr Weiterbildung in traumatherapeutischen Methoden. Aber noch mehr brauchen wir Mut. Den Mut, Nähe auszuhalten, ohne zu überfluten. Den Mut, nicht gleich reparieren zu wollen, sondern empathisch zu spiegeln. Denn dort beginnt Heilung: wo wir hinsehen, fühlen und gemeinsam sortieren.