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Kriegserfahrene Chirurgen bereiten Kollegen auf den Ernstfall vor

Gesundheitspolitik

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Nach der Anschlagsserie am 13. November 2015 in Paris funktionierte die medizinische Versorgung in der französischen Metropole hervorragend. Ebenso wollen die deutschen Chirurgen vorbereitet sein, falls es auch in Deutschland zu Attentaten kommt.

Kennen Sie ein Tourniquet? Das Band dient dazu, den Blutfluss zu unterbrechen, wenn nach Unfällen oder auch nach Bombenattentaten bei Menschen Gliedmaßen schwer verletzt oder abgerissen wurden. Die Armeen nutzen es weltweit, in einigen Ländern ist es bereits Usus, dass der Normalbürger damit umgehen kann. Nach dem Attentat beim Bos­tonmarathon kam es vielfach zum Einsatz.

Nach den Vorstellungen der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) sollte angesichts der steigenden Terrorgefahr auch Deutschland der Bevölkerung den Kompressionsriemen zur Verfügung stellen und – so eine Idee – neben den Defibrillatoren aufhängen, wie DGU-Präsident Professor Dr. Florian Gebhard, Universität Ulm, gegenüber Journalisten erklärte.

Vorbereitung auf Situation, "die hoffentlich nie eintritt"

Die Forderung nach einem allgemein verfügbaren Abbindesystem ist allerdings nur ein Teilstück im Gesamtkonzept, dass die DGU gemeinsam mit Vertretern der Bundeswehr für den Ernstfall erarbeitet hat. In einem Fünf-Punkte-Plan sind die Maßnahmen zusammengefasst. "Wir brauchen eine bestmögliche Vorbereitung auf eine Situation, die hoffentlich nie eintritt", erklärte DGU-Vorstandmitglied Professor Dr. Bertil Bouillon zum Maßnahmeplan.

Ein Ziel der Vorschläge ist die Vorbereitung von Chirurgen zur Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen im Rahmen der "Initiative TraumaNetzwerk DGU®". Der Initiative gehören bundesweit 52 zertifizierte Traumanetzwerke mit 600 angeschlossenen Traumazentren an. Bisher werden pro Jahr rund 1600 Mediziner unterschiedlicher Disziplinen bereits zur initialen Schockraumdiagnostik geschult.

Künftig sollen in Kooperation mit kriegserfahrenen Chirurgen aus Bundeswehrkrankenhäusern auch Grundlagenkenntnisse für das Agieren nach Terroranschlägen vermittelt werden.

Erste Pilotkurse starten noch in diesem Jahr

Die ersten Pilotkurse für verantwortliche Unfallchirurgen starten im Dezember 2016. Danach sollen die Kurse regelhaft auch anderen Fachkollegen zur Verfügung stehen. Weitergegeben werden sowohl medizinisch-fachliche Inhalte zur Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen als auch medizintaktische und strategische Inhalte. Unter anderem geht es um den Grundsatz "life before limb", also Lebensrettung vor Gliedmaßenerhalt. Thematisiert werden zudem Fragen der Bevorratung, aber auch Verhaltensweisen bei der "Rettung unter Beschuss" sowie die Kommunika­tion mit Sicherheitskräften.

Ein weiteres Ziel im Fünf-Punkte-Plan ist, das Traumaregister des Traumanetzwerks um ein Schuss- und Explosionsregister zu erweitern. Damit soll deutschlandweit eine einheitliche Dokumentation diesbezüglicher Verletzungen und somit auch eine wissenschaftliche Auswertung zu Verletzungsmustern, Versorgungsstrukturen und Fehlervermeidung möglich werden.

Aber ist Deutschland nicht bereits durch die Übung von Unfällen mit vielen Verletzten gut vorbereitet? Nein, sagt Oberstarzt Professor Dr. Benedikt Friemert, Sanitätsoffizier der Bundeswehr und Leiter der AG Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie der DGU.

Szenarien bei Attentaten sind nicht vorhersehbar

Wie er erklärte, gehe es bei den geprobten Massenanfällen im zivilen Bereich (MANV) wie Zugunglücke oder Massenkarambolagen auf der Autobahn um eine zeitlich und räumlich kalkulierbare Hilfe. In der Regel sei hier nach etwa drei Stunden alles medizinisch Mögliche erledigt. Anders sei es bei Attentaten wie in Paris, wo einem Erstereignis weitere folgen können und man nicht weiß, ob auch Rettungskräfte beschossen werden. Diese Szenarien seien nicht vorhersehbar.

"Diese Unkalkulierbarkeit sind wir nicht gewohnt", so Prof. Friemert. Seit 60 Jahren sei dies nicht mehr diskutiert worden, weil es keinen Anlass gegeben habe. "Allerdings hat der Sanitätsdienst der Bundeswehr in der Vergangenheit durch seine Auslandseinsätze reichlich Erfahrungen sammeln können, von der die deutsche Chirurgie und insbesondere die Unfallchirurgie sowie die Notfallversorgung lernen können."

Die DGU-Vertreter fordern von der Bundesregierung zudem finanzielle Unterstützung bei Notfallübungen ein. Sie berichteten, dass die Traumanetzwerke bisher von der DGU bei der Planung und Durchführung dieser Übungen unterstützt werden. Bis zu 100 000 Euro kostet ein solcher Einsatz mit bis zu 50 "Schwerverletzten", bei dem der Regelbetrieb in einer Klinik stillgelegt und Operationssäle geschlossen werden müssen. Wegen der hohen Kosten für die bereits unterfinanzierten Kliniken gehören die Notfallübungen bisher noch nicht zur Routine.


Quelle: Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU)

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