Sachverständigenrat Mehr Geld für Landärzte!
Das jetzt vorgelegte Gutachten knüpft direkt an eine frühere Stellungnahme des Sachverständigenrats aus dem Jahr 2001 mit dem Titel „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ an. Damals bezog sich die Analyse einer möglichen Unterversorgung auf einzelne Erkrankungen, eine regionale Unterversorgung erschien im deutschen Gesundheitssystem noch kaum vorstellbar. Doch die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen ist die Versorgungssituation insbesondere in strukturschwachen, ländlichen Regionen teilweise ernsthaft gefährdet.
Als dringend reformbedürftig erkannt hat der Rat daher die zunehmende Fehlversorgung der Kapazitäten: zum einen zwischen ländlichen und städtischen Regionen und zum anderen zwischen hausärztlicher Grundversorgung und spezialisierter fachärztlicher Versorgung im ambulanten Bereich. Überkapazitäten bei den Fachärzten und auch bei den Kliniken müssten abgebaut und Maßnahmen ergriffen werden, um die drohende oder bereits existierende Unterversorgung zu kompensieren.
Aktuell erfolgen nur noch knapp 10 % aller Facharztabschlüsse im Bereich Innere und Allgemeinmedizin. Schätzungen zufolge müssten aber mindestens doppelt so viele Fachärzte für Allgemeinmedizin weitergebildet werden, um die Lücken zu schließen. Darüber hinaus müssten zukünftig deutlich stärkere Anreize für eine ärztliche Tätigkeit in von Unterversorgung bedrohten Regionen gesetzt werden. Der Rat empfiehlt dafür ein ganzes Bündel von Maßnahmen:
- An erster Stelle steht ein Vergütungszuschlag von 50 %, also eine Art „Landarztzuschlag“, in der Regelversorgung auf alle Grundleistungen für Hausärzte, die in einem Planungsbereich mit einem Versorgungsgrad von unter 90 % praktizieren. Dies würde aktuell ungefähr 12 % aller Planungsbereiche, 10 % aller Hausärzte und 4 % aller Vertragsärzte betreffen. Optional könnte dieser Zuschlag auch in Selektivverträgen eingeführt werden.
- Zum Abbau von Überversorgung in Ballungsräumen wird empfohlen, für Planungsbereiche mit einem Versorgungsgrad ab 200 % einen obligatorischen Aufkauf freiwerdender Arztsitze aller beplanten Gruppen (außer den Psychotherapeuten) durch die Kassenärztlichen Vereinigungen gesetzlich zu verankern. Dies betrifft derzeit ausschließlich Fachärzte, aktuell ca. 1,6 % aller Ärzte.
- In Anlehnung an die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) spricht sich auch der Sachverständigenrat für die Einführung eines obligatorischen Quartals in allgemeinmedizinischen Lehrpraxen im Praktischen Jahr des Medizinstudiums aus. So soll das Ungleichgewicht zwischen Haus- und Fachärzten verringert werden.
- Für Medizinische Fakultäten, die, etwa durch freiwillige Landarzt-Tracks, nachhaltig die Ausbildung im Fach Allgemeinmedizin fördern, sollten im Rahmen der Hochschulfinanzierung finanzielle Anreize geschaffen werden.
- Es sollte geprüft werden, inwieweit ein dem Studium obligatorisch vorausgehendes sechswöchiges Praktikum zur Berufsfelderkundung in ärztlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens eine erwünschte Steuerungswirkung hat. Diese sechs Wochen Vorpraktikum sollen u. a. der „Selbstprüfung“ dienen und würden auf das spätere Pflegepraktikum angerechnet.
- Zur Gewährleistung eines nahtlosen Übergangs zwischen Studium und Weiterbildung sowie zur Steigerung von Attraktivität und Qualität sollten bundesweit universitär angebundene Kompetenzzentren zur Weiterbildung Allgemeinmedizin etabliert werden.
- Zur Finanzierung der vorgenannten Aufgaben in Aus- und Weiterbildung soll eine „Förderstiftung medizinische Aus- und Weiterbildung“ geschaffen werden.
- In besonders von Unterversorgung bedrohten Regionen soll unter bestimmten Bedingungen der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen für die ambulante Versorgung auf das Land (nicht wie bisher die Krankenkassen) übergehen und dann erstmals eine gemeinsam mit dem stationären Bereich geplante, sektorenübergreifend erfolgende öffentliche Ausschreibung der Versorgung genutzt werden.
- Insbesondere in ländlichen Regionen (aber nicht nur dort) sollen „Lokale Gesundheitszentren zur Primär- und Langzeitversorgung (LGZ)“ etabliert und erprobt werden. LGZ sollen im Rahmen eines umfassenden Konzepts zur regional vernetzten Versorgung in ländlichen Regionen einerseits auch zukünftig eine Versorgung auf qualitativ hohem Niveau ermöglichen und andererseits zugleich jungen Ärzten und Pflegekräften attraktive (Teilzeit-)Arbeitsplätze bieten können. LGZ sollen spezielle Angebote für ältere und chronisch Kranke vorhalten und einhergehen mit einer erhöhten Mobilität sowohl aufseiten der Patienten (z. B. über Bürgerbusse, Hol- und Bringdienste) als auch bei den hier Beschäftigten (z. B. durch mobile Praxen für Ärzte und diverse Gesundheitsprofessionen). In LGZ könnten Belastungen der Beschäftigten durch Bereitschaftsdienste und Notfallversorgung auf mehrere Schultern verteilt werden.
- Die Hausarztzentrierung soll nach skandinavischem Muster durch eine gestaffelte Selbstbeteiligung von Patienten (innerhalb einer Spanne zwischen 10 und 50 Euro; alternativ als fester Betrag) gestärkt werden. Die Selbstbeteiligung würde fällig bei Direktinanspruchnahme der jeweils nächsten Versorgungsebene, konkret von Fachärzten oder Klinikambulanzen, ohne Überweisung. Freier Zugang (ohne Zuzahlung) sollte auch weiterhin bei Hausärzten, Augenärzten und Gynäkologen sowie in Notfällen und für Minderjährige möglich sein. Die Selbstbeteiligung soll als bargeldloser Direkteinzug über die jeweiligen Krankenkassen, alternativ über gestaffelte Zuzahlung bei Arzneimitteln immer dann erfolgen, wenn keine Überweisung durch einen koordinierenden Hausarzt vorliegt.
- Zur Begrenzung potenziell negativer Effekte von Wirtschaftlichkeitsprüfungen sollen mehrere Modifikationen erfolgen: z. B. generelle Deckelung von eventuellen Rückzahlungen bei Regressen, Bildung statistisch homogener und zugleich repräsentativer Gruppen von Praxen mit Ausschluss atypischer Praxen, bundesweite Anerkennung bestimmter Arzneimittel als Praxisbesonderheiten.
- Hausärzte sollen im Rahmen des vertragsärztlichen Notdienstes, insbesondere bei stark eingeschränkter Erreichbarkeit von Notdienst-Apotheken, ein auf ein definiertes Arzneimittelsortiment begrenztes Dispensierrecht erhalten.
Der Deutsche Hausärzteverband (DHÄV) begrüßte die Empfehlungen des Sachverständigenrats, stimmten diese doch in weiten Bereichen mit den Vorschlägen des DHÄV überein, wie die Hausarztmedizin in Deutschland gestärkt werden könne. Der DHÄV wolle in dem Veränderungsprozess daher eine konstruktive Rolle spielen. Einigermaßen positive Signale sind auch aus dem Bundesgesundheitsministerium zu vernehmen. Das Gutachten gebe wertvolle Impulse und eine gute Diskussionsgrundlage für kurzfristige, aber auch langfristige Maßnahmen. Man wird sehen, was davon wie schnell auch in die Tat umgesetzt werden kann.
Dr. Ingolf Dürr
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 35 (14) Seite 32-33
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.