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Mindestens drei Stunden täglich arbeiten

Autor: Cornelia Kolbeck, Foto: C. Kolbeck

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Gelegentlich schreiben Hausärzte erkrankte Jobsuchende wiederholt oder auch dauerhaft arbeitsunfähig. Für die Betroffenen ist das nicht in jedem Fall hilfreich. Dass es auch anders geht, wissen offenbar viele Mediziner nicht.

Bernd Schulz ist Leiter des Jobcenters Oberhavel. Er kennt die Situation nur allzu gut. Rund 6000 Arbeitslose, die sog. Hartz-IV-Hilfen erhalten, betreut sein Amt derzeit. Die Hälfte davon ist jünger als 50 Jahre.

„Fördern und Fordern“ heißt es im Sozialgesetzbuch II, doch mit den Betroffenen ist schwer zu arbeiten, wenn ihnen der Hausarzt eine andauernde Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. „Erwerbsfähigkeit ist klar definiert in § 8 SGB II mit mindestens drei Stunden täglich“, so Schulz.

"Drei Stunden" für den Wiedereinstieg ins Berufsleben 

Die Krux sind die mindes­tens drei Stunden, die – nicht für jeden Kranken, aber doch für einige – entscheidend sein können für einen Wiedereinstieg ins Berufsleben. Schulz ist sich aber auch sicher, dass nicht jeder wirklich arbeiten will und der Rückhalt beim Arzt gesucht wird: „Wer hartnäckig ist, bekommt auch einen Schein“, so seine Erfahrung. Das gelte auch für die Reiseunfähigkeitsbescheinigung.

Erscheint ein Arbeitsloser nicht zum Termin beim Fallmanager und legt er eine solche Bescheinigung vor, kann er Sanktionen entgehen. Und das wird von manchen auch schon mal ausgenutzt.

Reiseunfähigkeit wird großzügig attestiert

Schulz präsentiert ein Beispiel: Ein Kunde, der nur 400 Meter vom Jobcenter entfernt wohnt, fährt am 19.11. mit der S-Bahn zum 15 km entfernten Hausarzt. Dieser bescheinigt dem Patienten eine Reiseunfähigkeit vom 23. (Jobcenter-Termin) bis 27.11. Einem anderen Jobcenter-Kunden attestiert derselbe Arzt die Reiseunfähigkeit von 21.1. bis zum 15.2. Amtstermin ist der 2.2.

Erwerbsfähig ist ...

Erwerbsfähigkeit ist definiert in § 8 SGB II: „Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.“

„Das macht mich nervös, das müssen wir regulieren“, sagt Amtsleiter Schulz. Seine Regulierungsmethode ist die Weiterleitung von Dauerkranken – auch einige Jahre Kranksein ist keine Seltenheit – an medizinische Gutachter, mit denen das Amt Verträge geschlossen hat.

Rund 500 Gutachten lässt das Amt pro Jahr erstellen. Die Fallmanager filtern die kritischen Fälle heraus, darunter war auch schon eine sieben Jahre dauernde AU wegen psychischer Störungen. Schulz stellt aber klar, dass es keinesfalls darum geht, Schwerkranke zum Arbeiten zu zwingen.

Leicht Erkrankte sollten jedoch die Chance erhalten, wieder in den Arbeitsprozess vermittelt werden zu können. Dr. Sabine Schulze, Leiterin des Berliner Instituts für Sozialmedizinische Begutachtung und Fortbildung, hat zahlreiche der Gutachtenanträge auf dem Tisch.

Begutachtung dauert mindestens 45 Minuten

Der Allgemeinmedizinerin ist bewusst, dass der Hausarzt vor Ort weit weniger Zeit für seine Patienten hat als sie und ihr Team. Eine Begutachtung im Institut dauert mindestens 45 Minuten. Der Bürger stimmt fast immer zu, sich für die körperliche Untersuchung bis auf die Unterwäsche auszuziehen.

Fragen nach Drogen- und Alkoholkonsum gehören ebenfalls zur umfangreichen Anamneseerhebung. Dr. Schulze ist zugleich Sozialmedizinerin. Sie kennt die gesetzlichen Vorschriften. Sie hat Verständnis für die Niedergelassenen: „Es gibt so viele Regelungen, die können Ärzte gar nicht alle überblicken.“

Dr. Schulze beschreibt einen aus ihrer Gutachtererfahrung typischen Fall: Ein 43-jähriger Dachdecker war nach einem Arbeitsunfall und Krankheit lange arbeitslos. Es folgt schließlich die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II, also Hartz IV. Von seiner Hausärztin wurde der Mann weiterhin wegen andauernder Rückenprobleme krankgeschrieben.

Fazit des Gutachtens: Der Mann kann zwar nicht mehr die alte Tätigkeit als Dachdecker ausüben, wohl aber eine leichte Arbeit im Sitzen, eventuell bei einem Wachdienst.

Kannte die Hausärztin die Möglichkeiten?

Ein Anruf bei der Hausärztin machte deutlich, dass diese sich der Möglichkeiten gar nicht bewusst war. „Die Ärztin war dankbar über die Information“, so die Gutachterin. Sie sucht in der Regel den Kontakt zu den Hausärzten und hat schon bei Ärzte-Stammtischen die Gesetzeslage erläutert.

Ob Ärzte aus Unwissenheit oder aus Gefälligkeit die Dreistundenregelung nicht beachten, will Amtschef Schulz dahingestellt lassen. Vor Gericht ziehen will er auch nicht: „Wir müssen uns stattdessen mit den Ärzten verständigen, um so viele Menschen wie möglich in den ersten Arbeitsmarkt zurückzubringen.“ Er ist überzeugt, dass Aufklärung der richtige Weg ist.

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