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Mit dem weißen X Vertrauen signalisieren

Autor: Cornelia Kolbeck, Foto: Unabhängiger Beauftragter

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Jedes Jahr wird Tausenden Kindern in Deutschland sexuelle Gewalt angetan. Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, erklärt, was dagegen getan werden muss.

Herr Rörig, von welchen Dimensionen des Missbrauchs reden wir?

Rörig: Laut Kriminalstatistik gibt es pro Jahr etwa 12 500 Ermittlungs- und Strafverfahren. Danach sind 14 000 Kinder und Jugendliche betroffen. Das Dunkelfeld ist viel größer. Experten sprechen von rund 100 000 Fällen jährlich. Die WHO geht von 18 Millionen Betroffenen in Europa aus.

Hat sich seit den Offenbarungen der Opfer an der Odenwaldschule an den Zahlen etwas geändert?

Rörig: Die Zahlen sind konstant hoch. Sexueller Missbrauch ist nicht eingedämmt. In Deutschland muss noch viel getan werden. Wir brauchen passgenaue und schnelle Hilfen und die umfassende Aufarbeitung von Missbrauch.

Bereits 2010 wurde ein Runder Tisch einberufen. Es wurde seitdem viel getan. Reicht das nicht?

Rörig: Die Aufarbeitung von sexueller Gewalt an Kindern ist ein schmerzhafter und auch von vielen Rückschlägen gekennzeichneter Prozess. Die Sensibilität der Menschen ist zwar gewachsen, aber wir haben in der Gesellschaft noch mit vielen Widerständen, Verharmlosungen und auch mit Unverständnis zu tun.

Das betrifft auch die Politiker?

Rörig: Die Politik hält sich leider bei der Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches aus 2011 zurück. Die dringende Reform des Opferentschädigungsgesetzes wird nicht konsequent angegangen, ebenso fehlt es an der dringend erforderlichen personellen und finanziellen Stärkung spezialisierter Fachberatungsstellen. Schutzmaßnahmen, etwa in Schulen und Kitas, müssen endlich bundesweit eingeführt werden.

Gerade hat die Unabhängige Aufarbeitungskommission zum Kindesmissbrauch ihre Arbeit aufgenommen. Was erhoffen Sie sich?

Rörig: Ein Schwerpunkt wird die Anhörung Betroffener sein. Wir wollen ihnen Räume eröffnen, in denen sie über das Erlebte sprechen und Anerkennung erfahren können – jenseits von Gerichtssälen, Therapieräumen und jenen Institutionen, wo sie Missbrauch erlitten haben. Viele Betroffene haben uns z.B. gesagt, sie wollen keine Aufarbeitung mit der Kirche, sondern durch eine unabhängige staatliche Stelle.

Denken Sie, dass sich Betroffene einer "Kommission" anvertrauen?

Rörig: Es sind verschiedene Module geplant. Es wird vertrauliche Anhörungen geben, aber auch öffentliche. Die Kommission wird mit Ärzten, Psychotherapeuten und Anwälten zusammenarbeiten, die erfahren sind im Themenfeld und die der Schweigepflicht unterliegen. Sie werden Betroffene in den Anhörungen sensibel befragen und begleiten können. Die Anhörungen sollen dezentral und bundesweit stattfinden. Die Details werden von der Kommission jetzt erarbeitet. Ich gehe übrigens nicht davon aus, dass die Kommission nach den vorgesehenen drei Jahren ihre Arbeit beendet haben wird. Aufarbeitung funktioniert nicht im Expresstempo.

Wird auch die Internetkriminalität ein Thema sein?

Rörig: Alle Kontexte des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sollen in den Blick genommen werden, dazu gehört auch die zunehmende Gewalt mittels digitaler Medien.

Wer sind die Haupttäter bei sexuellem Missbrauch?

Rörig: Mindestens jedes zehnte Kind in Deutschland wird in seiner Kindheit Opfer sexueller Gewalt. Nur in Ausnahmefällen ist der fremde Mann, der hinter der Hecke auf dem Spielplatz wartet, der Täter. Meist sind es Menschen aus dem nächsten Umfeld: Vater, Mutter, Freunde der Eltern, Geschwister. Wir müssen hierfür mehr sensibilisieren und Hilfe anbieten.

Mit dem weißem X Vertrauen signalisierenEine wichtige Rolle spielen bei der Aufdeckung von Missbrauchsfällen sicher Haus- und Kinderärzte.

Rörig: Ärzte sind wichtige Schlüsselpersonen. Es gibt Signale, die sie aufmerksam werden lassen sollten. Gerade haben wir einen entsprechenden Kooperationsvertrag mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung unterzeichnet. Ärzte haben übrigens einen Rechtsanspruch auf kostenfreie und anonymisierte fachliche Begleitung in Kinderschutzfragen. Sie können sich bei Fragen an unser Hilfetelefon Sexueller Missbrauch (Tel. 0800 22 55 530) wenden. Ärzte können bei uns oder unter www.kein-raum-fuer-missbrauch.de auch Poster für die Praxis erhalten. Sie können mit dem weißen X unserer Initiative signalisieren: Ich bin für ein vertrauliches Gespräch offen.

Sie machen sich als Beauftragter für Prävention stark.

Rörig: Ich engagiere mich deshalb dafür, dass in in allen Kitas, Schulen oder Sportvereinen Schutzkonzepte etabliert werden. Lehrer und Erzieher sollten über ein Basiswissen zu sexueller Gewalt verfügen, um Signale zu erkennen. Wir wollen, dass Kompetenzorte entstehen, wo Kinder Vertrauenspersonen finden, die ihnen aus dem Teufelskreis heraushelfen. Und Kinder sollten in Workshops lernen, an wen sie sich wenden können, wenn sie Übergriffe erleiden. Schutzkonzepte sollen zum Qualitätsmerkmal von Einrichtungen werden.

Eine solche Prävention wird sicher teuer werden.

Rörig: Die Deutsche Traumafolgekostenstudie von 2012 zeigt, dass Kindesmisshandlung und sexuelle Gewalt an Kindern rund elf Milliarden Euro an Folgekosten nach sich ziehen. Darum richten wir unser Augenmerk auf die Prävention. Wir müssen prophylaktisch Schutzmaßnahmen wie bei Volkskrankheiten, etwa Diabetes, verankern.


Quelle: Medical-Tribune-Interview

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