Hausärzte Partner der Altersmedizin?

Gesundheitspolitik Autor: Peter Landendörfer

Ohne Zweifel – das Praxishandbuch Altersmedizin ist ein opus magnum, das Maßstäbe setzt. In seiner Dreigliederung Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie lässt es von vorneherein keinen Zweifel aufkommen, an wen es sich richtet: Es ist ein Buch für Spezialisten der Betreuung und Versorgung älterer Menschen. Obwohl die Hausärzte als Hauptversorger älterer Menschen nahezu überhaupt nicht beim Namen genannt werden, ist dieses Buch für die hausärztliche Altersmedizin dennoch nicht ohne Bedeutung. Auch wenn es sicher nicht die Intention der Herausgeber und Autoren dieses Praxishandbuchs war, könnte die Hausärzteschaft, sofern sie nicht nachtragend ist, daraus einen brauchbaren Kanon für ihre hausärztliche Altersmedizin formulieren. Im Folgenden seien einige Stichpunkte kritisch dargestellt.

Durchaus bemerkenswert, weil vielerorts fernab der Versorgungsrealität, steht gleich am Anfang programmatisch: Die „Altersmedizin ist eine praktische Disziplin“. Auf der Basis ihrer jeweiligen Kontextfaktoren berücksichtigt sie die vielfältigen Handlungsfelder aus der Sicht der gelebten Alltäglichkeit des Alters. Die dazu notwendigen Grundkonzepte bezieht der Altersmediziner und Hausarzt stets aus dem Wissensbestand und der Praxis der 3 genannten Disziplinen. Mit deren Hilfe soll ein individuell möglichst „gutes Leben im Alter“ erreicht werden. Damit verschiebt der ältere Patient selbst die Gewichtung von der Belastung seiner Morbidität hin zum Erhalt seiner Funktionalität.

Abkehr vom „Konzept Multimorbidität“

War bislang die Multimorbidität eines der typischen Charakteristika des alten Patienten, kann man neuerdings von einem nicht unbedeutenden Paradigmenwechsel sprechen: Das „Konzept der Multimorbidität“ basiert auf einer Gleichzeitigkeit verschiedener Einzelerkrankungen und kennt weder die Kausalzusammenhänge noch die Priorisierung ihrer einzelnen Krankheiten. Im Gegensatz dazu arbeitet das „Konzept der Komorbidität“ mit einer sog. Indexerkrankung, der eine führende Rolle zugewiesen wird und der sich die anderen vorhandenen oder neu hinzutretenden Erkrankungen oder Beschwerden zu- bzw. unterordnen. Gerade im hausärztlichen Alltag lässt sich damit die Versorgungsrealität des älteren Menschen weit besser abbilden, da die „Hauptbeschwerden“ unserer älteren Patienten nahezu bei jeder Konsultation anders gewichtet sind und eine stets neue Behandlungsstrategie erfordern.

Patientenzentrierte Behandlung als Königsweg

Der gewohnte krankheitszentrierte Ansatz beim Konzept Multimorbidität trägt den komplexen biopsychosozialen Problemen des älteren Patienten nicht genügend Rechnung. Um aber der individuellen Priorisierung seiner Wertvorstellungen und den individuellen Präferenzen des älteren Patienten gerecht zu werden, führt kein Weg an einer patientenzentrierten Versorgung vorbei. Mit ihr eröffnen sich praktikable Möglichkeiten, die therapiebedingten Belastungen den Vorstellungen und der Alltagswirklichkeit des Alters anzupassen und die dauerhafte Adhärenz und bestmöglichen Therapieziele zu erreichen. Letztlich dient dies dem Wunsch der älteren Patienten nach einer möglichst optimalen Lebensqualität.

Altersmedizin als praktische Disziplin steht und fällt mit ihrer Interdisziplinarität. Sie ist ihr zentrales integratives Grundanliegen. Es ist bezeichnend, dass die Herausgeber zugeben, dass diese Interdisziplinarität „vielerorts noch nicht zufriedenstellend in die Praxis umgesetzt“ ist. Auf die Zukunft gesehen wird es ohne eine sinnvolle berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit nicht möglich sein, die Gesundheitsversorgung der älteren Generation zu bewältigen. Zentrale Forderung der Interdisziplinarität ist die sektorenübergreifende Zusammenarbeit zwischen dem ärztlichen Team und den nichtärztlichen Professionen. Noch bestehende Fachgrenzen müssen überwunden und standesbezogene Empfindsamkeiten beseitigt werden, denn keine Disziplin und keine Fachlichkeit kann das künftige epidemiologische Spektrum und seine komplexen Anforderungen für sich allein bewältigen.

Geriatrisches Assessment – das "EKG des Geriaters"

Noch immer stehen Hausärzte dem geriatrischen Assessment mit einer gewissen kritischen Distanz gegenüber. Sie vergessen dabei aber zumeist, dass sich dieses Assessment als Teil der üblichen diagnostischen Methoden der Medizin versteht und dazu dient, den älteren Menschen überhaupt als geriatrischen Menschen zu erfassen. In einem weiteren Schritt dient es dazu, mittels gängiger Tests die Funktionalität oder Autonomie des älteren Patienten zu messen. Was in der Geriatrie weltweiter Standard ist, kann und darf in der hausärztlichen Geriatrie nicht beiseitegelassen werden. Und ein Letztes: Kein Begriff wird in der modernen Hausarztmedizin mehr strapaziert als der Begriff "evidenzbasiert". Dabei gilt, was das vorliegende Praxishandbuch schreibt: "Für kaum einen anderen Bereich in der Altersmedizin existieren so viele evidenzbasierte Belege wie für den Nutzen des geriatrischen Assessments."

Hausärzte sollten die Betreuung ihrer alten Patienten nicht aus der Hand geben

Wie bereits angedeutet sind im genannten Praxishandbuch auf seinen 800 Seiten die Haus-ärzte als Berufsgruppe und Basisversorger der älteren Patienten eigentlich nicht existent. Immerhin wird zugegeben, dass "bis zu 80 % der Arzt-Patient-Konsultationen in der Hausarztpraxis multimorbiden Patienten gewidmet" sind, die Hausärzte tauchen aber nicht einmal im Zusammenhang der Interdisziplinarität als Partner auf. Am Tisch des geriatrischen Behandlungsteams sitzen sie ebenfalls nicht, es sei denn, die Autoren haben sie völlig bedeutungslos unter die Gruppe der Ärzte subsummiert. Ich will das nicht als Ignoranz der geriatrischen Spezialisten deuten, haben wir uns als Hausärzte in der Vergangenheit doch nicht gerade mit einem besonderen Ehrgeiz hervorgetan, den älteren Patienten als eine Spezies sui generis zu betrachten.

Für die meisten unserer Kollegen ist der ältere Patient eben nichts weiter als ein älter gewordener Patient, der nach den gleichen Maßstäben behandelt wird wie eh und je. Geklagte Funktionsdefizite oder nachlassende Autonomie werden als Normalität des Alters gedeutet. Die alltägliche Mühsal der geriatrischen Versorgung überlässt man allzu gern den nichtärztlichen Disziplinen. Dies bleibt den geriatrischen Spezialisten und deren Fachgesellschaften natürlich nicht verborgen. Nach ihrem Fachverständnis hat der Hausarzt allenfalls eine rudimentäre Kompetenz zur Versorgung älterer Patienten, obwohl sich die Versorgungsrealität völlig anders darstellt und in Zukunft noch einmal anders werden wird.

Die Schlussforderung an uns selbst kann nur die sein, die Erkenntnisse der spezialistischen Altersmedizin unvoreingenommen zu prüfen, auf ihre hausärztliche Alltagsrealität kritisch zu hinterfragen und falls möglich umzusetzen, die Standards der Geriatrie in die hausärztliche Diagnostik einzubauen und bei der Interdisziplinarität selbstbewusst die hausärztliche Kompetenz zu behaupten. Unter keinen Umständen darf es dazu kommen, dass die Hausärzte die Handlungshoheit in der vertrauensvollen und meist lebenslangen Betreuung unserer älteren Patienten an irgendwie geartete Spezialisten abgeben.

Weckruf an hausärztliche Funktionäre

Zukunftssichere Versorgung älterer Patienten ist ein Dauerbrenner von Politik und Gesellschaft. Die Spezialisierung der Altersmedizin an der Hausarztmedizin vorbei steht im völligen Gegensatz zur Versorgungsrealität unseres Gesundheitssystems. Nahezu 90 % der älteren Patienten haben ihren Hausarzt und vertrauen seiner Behandlung meist schon jahrzehntelang. Sucht man aber in unseren Fachgesellschaften nach einer Nische, wo sich der Funktionärseifer auf eine zukunftstaugliche hausärztliche Geriatrie konzentriert, wird man nicht richtig fündig. Sich im Klein-Klein der Fachgesellschaften um eine große Patientengruppe, wie sie unsere älteren Patienten darstellen, zu kümmern, ist zugegebenermaßen mühsam. Sie darf sich auch nicht allein auf den Kontext von Gebührenordnungsziffern erstrecken.

Hier gilt es, mit Selbstbewusstsein und Kompetenz eine an den hausärztlichen Alltag angepasste Altersmedizin zu entwickeln, die entsprechenden Fort- und Weiterbildungsinhalte anzubieten und eine anerkennungsfähige Zertifizierung zu ermöglichen. Eine so ausgerichtete geriatrische Weiterbildung auf dem Gebiet der Altersmedizin wird die Einheit der Allgemeinmedizin nicht erschüttern, sondern dient vielmehr der Weiterentwicklung unseres Fachs hin zu einer Zukunftstauglichkeit im Rahmen des demographischen Wandels.

Der ältere Patient im Fokus allgemeinmedizinischer Forschung

Es ist ein Erfolg im jahrzehntelangen Kampf der Allgemeinmedizin, dass an den allermeisten medizinischen Fakultäten deutscher Universitäten ein Lehrstuhl unseres Fachs etabliert worden ist. Die Forschungsaktivitäten dieser Lehrstühle nehmen in einem unglaublich rasanten Tempo zu und genießen eine auch international große Reputation. Dennoch muss sich die demographische Veränderung unserer Gesellschaft und die damit einhergehende Anpassung der hausärztlichen Herausforderungen deutlicher in den Themen der allgemeinmedizinischen Forschung abbilden. Viele Forschungsergebnisse der geriatrischen Spezialdisziplinen müssen auf ihre Anwendbarkeit im hausärztlichen Alltag wissenschaftlich hinterfragt werden. Ich bin sicher, die wissenschaftliche Kapazität allgemeinmedizinischer Lehrstühle und Institute reicht schon lange aus, um auch auf dem Gebiet einer hausärztlichen Geriatrie an internationale Standards anzuknüpfen.

Zusammenfassend ist das „Praxishandbuch Altersmedizin“ zwar ein Handbuch für Spezialisten der Geriatrie, als Handbuch für all diejenigen unter uns Hausärzten, welche die große Bedeutung der Altersmedizin für die zukünftige Versorgung ihrer älter werdenden Patientenklientel erkennen, ist es allemal wert, das eine oder andere Kapitel zu lesen.

Dr. med. Peter Landendörfer
Allgemeinarzt und Geriater

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (18) Seite 32-37
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

Pantel J. , Schröder J., Bollheimer C., Sieber C., Kruse A. (Hrsg.); Praxishandbuch Altersmedizin, Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie, 799 S., 60 Abb., 65 Tab., 129,99 €, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2014 Pantel J. , Schröder J., Bollheimer C., Sieber C., Kruse A. (Hrsg.); Praxishandbuch Altersmedizin, Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie, 799 S., 60 Abb., 65 Tab., 129,99 €, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2014
© doctorpress Dr. med. Frank H. Mader
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