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Prof. Gerlach im Interview: „Überversorgung ist Patienten-Schädigung“

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

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Über-, Unter- und Fehlversorgung ist ein ständiges Thema beim Sachverständigenrat fürs Gesundheitswesen - und für dessen Vorsitzenden, den Allgemeinmedizin-Professor Dr. Ferdinand M. Gerlach.

Professor Dr. Ferdinand M. Gerlach lehrt Allgemeinmedizin an der Goetheuniversität Frankfurt, forscht u.a. zur hausarztzentrierten Versorgung, ist Präsident der Fachgesellschaft DEGAM und seit Juli Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR). Darüber sprach mit ihm MT-Redakteur Michael Reischmann.

 

MT: DEGAM und Hausärzteverband freuen sich über Ihren Vorsitz beim SVR. Ist Ihre Ernennung ein Vorteil für die Allgemeinmedizin?

Prof. Gerlach: Ein Nachteil ist es nicht. Aber es ist nicht so, dass ich dem Rat einen hausärztlichen Stempel aufdrücke. Ich sitze dort auch nicht als Lobbyist einer Gruppe. Im Rat gibt es allerdings ohnehin einen Konsens darüber, dass eine qualitativ hochwertige hausärztliche Versorgung die Basis jedes vernünftigen Gesundheitswesens sein muss.

MT: Inwieweit hört die Politik auf wissenschaftlichen Rat?

Prof. Gerlach: Der Rat gibt keine Stellungnahmen zu tagespolitischen Themen ab, zum Beispiel zur Abschaffung der Praxisgebühr. Uns geht es um die große Linie, um Strategien. Unsere Empfehlungen richten sich sowohl an die Politik als auch an die Akteure im System. Es gibt Empfehlungen des Rates, die kurzfristig, manchmal aber auch erst nach fünf oder zehn Jahren ins Gesetz gekommen sind, beispielsweise die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln. Wir erwarten auch nicht, dass die Politik unsere Vorschläge eins zu eins umsetzt, denn sie muss die Maßnahmen verantworten und Mehrheiten organisieren.

MT: Apropos Praxisgebühr. Werden wir jetzt eine Diskussion über andere Instrumente zur Steuerung der Arztbesuche bekommen?

Prof. Gerlach: Dazu gibt es keine konsentierte Position des Rates. Meine persönliche Meinung ist, dass die Praxisgebühr ihre anfängliche Steuerungsfunktion komplett verloren hat. Anstelle einer ersatzlosen Streichung hätte ich es besser gefunden, sie sinnvoll weiterzuentwickeln, wie es auch im Koalitionsvertrag steht. Die nächste Regierung muss darüber noch einmal nachdenken. Auch weil ab 2014/15 die Einnahmen fehlen werden. Diskutiert wird, dass nur bei Inanspruchnahme der nächsten Versorgungsebene eine Beteiligung des Patienten erhoben wird. Der Zugang zum Hausarzt wäre dann ohne Zuzahlung möglich.

MT: Was muss sich bei der hausärztlichen Versorgung tun – mittelfristig, langfristig, strategisch?

Prof. Gerlach: Der Rat sieht mit Sorge, dass es eine sich weiter verschärfende doppelte Fehlverteilung in der ambulanten Versorgung gibt. Von 1993 bis 2009 hat die Zahl der Fachspezialisten um 50,5 % zugenommen, die Zahl der Hausärzte ist um 7,6 % zurückgegangen. Dieser Trend setzt sich fort. Die zweite Fehlverteilung ist, dass sich Ärzte vor allem in reichen Stadtteilen von Ballungszentren niederlassen – und auf dem Land fehlen. Das ist eine echte Gefahr für die Versorgung in der Fläche.

MT: Das Problem wird doch zum Teil angegangen. Stichworte sind die neue Bedarfsplanung oder die Förderung der Allgemeinmedizin.

Prof. Gerlach: Man kann in der Bedarfsplanung nur die Ärzte verplanen, die es gibt. Das Kernproblem ist aber, dass sich nicht genügend junge Ärztinnen und Ärzte für die Grundversorgung entscheiden. Die Förderung der Allgemeinmedizin ist noch nicht konsequent genug.

MT: Wie soll die Versorgung vor Ort künftig aussehen?

Prof. Gerlach: In seinem Zukunftskonzept schlägt der Rat vor, dass sich Ärzte und Kliniken sektorübergreifend zusammenschließen und die Verantwortung für die Versicherten einer Region übernehmen, die sich freiwillig für solch ein Modell entscheiden. Für die Betreuung erhalten solche Netze vorab von den Kassen die Mittel – kontaktunabhängig. Dann haben sie ein starkes Interesse daran, dass die Menschen möglichst lange gesund bleiben und dass keine unnötigen Leistungen erbracht werden. Um Risikoselektion zu vermeiden, muss man zum Beispiel beobachten, ob Wartelisten entstehen oder wie gut die Betreuung im Altenheim ist.

MT: Solche Modelle gibt es doch schon, zumindest in Teilen.

Prof. Gerlach: Das älteste Modell, das nach diesen Vorstellungen funktioniert, ist die Knappschaft. Modelle mit Budgetverantwortung sind etwa das Gesunde Kinzigtal oder das UGOM in Bayern. Wir haben in Deutschland etwa 20 Ansätze gefunden, wo diese Art der Versorgung mehr oder weniger umgesetzt wird. Beim HzV-Vertrag in Baden- Württemberg gibt es die kontaktunabhängige Pauschale, qualitätsbezogene Anreize für das Erreichen einer bestimmten Impfquote und einen Zuschlag für die Betreuung chronisch Kranker durch eine VERAH. Die integrierte Versorgung versucht man zu stärken, indem 73c-Verträge an 73b-Verträge gekoppelt werden.

MT: Neuere, geschiedste HzV-Verträge gehen dahinter zurück.

Prof. Gerlach: Verträge, die nicht versuchen, die Sektorengrenze zu überwinden, gehen letztlich nicht weit genug. Mit der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung versucht man die Mauer zwischen den Sektoren zu durchbohren. Der Rat empfiehlt, diesen Bereich um ambulante Operationen, stationsersetzende Leistungen und Kurzzeit-/Tagesfälle auszubauen. Zudem sollte die spezialfachärztliche Versorgung komplett selektivvertraglich geregelt werden, damit Mengen, Preise und Qualität vertraglich festgelegt werden. Jetzt heißt die Regel „wer kann, der darf“ – und das so oft wie er will. Wenn es so läuft, werden wir eine Mengenausweitung erleben. Doch Überversorgung ist Schädigung von Patienten, unnötige Eingriffe sind Körperverletzung. Wir können kein Interesse daran haben, dies auszuweiten.

MT: Es gibt aber die Befürchtung, dass die Kassen selektiv nicht die Besten, sondern die Billigsten unter Vertrag nehmen wollen.

Prof. Gerlach: Wenn Kassen den Billigen Jacob geben wollen, muss man das transparent machen – und Versicherte müssen die Kasse wechseln.

MT: Auf Transparenz wird gerne gesetzt, beispielsweise bei den Qualitätsberichten der Krankenhäuser im Internet. Doch wer nutzt die?

Prof. Gerlach: Studien zeigen, dass solche Qualitätsberichte weder von Patienten und Angehörigen noch von Ärzten in relevantem Umfang für Entscheidungen zu Klinikeinweisungen genutzt werden. Viele Dinge, die für die Patienten relevant sind, können zum Zeitpunkt der Entlassung auch noch nicht festgestellt werden, etwa ob sie mit einem neuen Kniegelenk gut laufen können, Schmerzen haben oder es Komplikationen gibt. Man muss sektorenübergreifend und populationsbezogen die gesamte Kette betrachten. Denn für die signifikante Beurteilung schwerwiegender Risiken haben wir je Klinik zu geringe Fallzahlen. 2010 wurden 1,3 von 100 Knie-TEP wegen Komplikationen neu operiert. Um zu unterscheiden, ob das Zufall oder ein Qualitätsproblem ist, braucht man mindestens 447 Operationen. Diese Fallzahl erreichten aber nur 2,5 % aller Kliniken in Deutschland. Beim Indikator Sterblichkeit sind die Fallzahlen nur bei Herzoperationen ausreichend.


 Porträt-Quelle: Goethe-Universität Frankfurt am Main

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