Anzeige

Psychische Nöte flackern oft im November auf

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

Anzeige

Graue, verhangene Tage, Regen und keine Sonne - der Herbst-Blues geht um. Auch in der Praxis von MT-Kolumnistin Dr. Tauber-Bachmann.

Der November ist schon ein schwieriger Monat! Draußen wird es grau, oft schüttet es wahre Sturzbäche vom Himmel und tagsüber will es gar nicht mehr richtig hell werden. Patienten und Ärzte leiden darunter, freilich auf verschiedene Weise.


Die Klagen meiner Patienten nehmen zu: Das nass-feuchte Wetter verschlimmert ihre Beschwerden, vor allem bei orthopädisch-rheumatologischen Erkrankungen. Da die aufheiternde Wirkung des Sonnenlichts ausbleibt, rutschen viele in dysthyme oder depressive Stimmungslagen ab – mit allen Konsequenzen. Etwa der Verstärkung ihrer sonst gut erträglichen Beschwerden oder dem Auftreten neuer Symptome, oft eher psychosomatischer Art.


Das wirkt sich wiederum auf uns Hausärzte und -ärztinnen aus: Wir müssen diese Veränderungen und Symptome einordnen und auffangen. Wegen der ersten grippalen Infekte ist die Praxis ohnehin rappelvoll. Außerdem sollen nebenher die Grippeimpfungen (hurra, wir haben Impfstoff!) rechtzeitig durchgeführt werden. Ja, und vielleicht ist manch einer von uns auch selbst ein bisschen anfällig für den November-Blues.


Ich jedenfalls gehöre zu der Kategorie Mensch, dem es mit regelmäßigem Aufenthalt an frischer Luft entschieden besser geht. So halte ich auch all’ die Klagen, die in der Sprechstunde an mich herangetragen werden, besser aus. Doch zugegebenermaßen sind sportliche Aktivitäten im Freien bei heftigem Regen irgendwann nicht mehr vergnüglich. An einem solchen trüben Novembertag hatte ich eine Nachmittagssprechstunde, die mich doch ziemlich an meine Assistentenzeit in der Psychiatrie erinnerte.

»180/120 mmHg, aber das Kopfweh kommt vom Shampoo«

Die erste Patientin war schon viel zu früh da und drängelte sich als Akutfall vor, als ich von den Hausbesuchen zurück in die Praxis kam. Ich nahm mir mit schlechtem Gewissen trotzdem Zeit für die Post und einen Kaffee, aber ganz so entspannt wie mit leerem Wartezimmer war ich doch nicht mehr.


Bei mir im Sprechzimmer klagte die Frau dann über dumpfe Kopfschmerzen im Scheitelbereich: Seitdem sie ein bio­logisches Haarshampoo verwende, spüre sie diese Beschwerden. Eine Abklärung ihrer Kopfschmerzen wünschte sie von mir aber nicht, lediglich ein Attest, damit sie den Hersteller des Bioshampoos rechtlich belangen könne. Ein Anwalt habe ihr dazu geraten.


Obwohl sie mir versicherte, dass der Kopfschmerz bereits von der Heilpraktikerin ausgeleitet werde, erlaubte ich mir eine Untersuchung. Und siehe da, der Blutdruck lag bei 180/120 mmHg! Auch die zu Hause gemessenen Werte waren hyperton. Meine guten Worte und der Vorschlag, doch das Blutdruckmedikament höher zu dosieren, stießen bei ihr auf taube Ohren. Auch mein Hinweis, dass ein rechtliches Verfahren vermutlich nur dem Anwalt nützen würde, kam nicht an. Tja, ein aussichtsloser Fall für gute empathische Beratung. Sie wird ihr Glück woanders probieren müssen.


Die nächste Patientin kam zum Kontrolltermin. Sie war vor einem halben Jahr völlig entkräftet und erschöpft in meiner Praxis aufgetaucht. Die junge Mutter, die beim ersten Kind alles perfekt machen wollte, stillte noch ihre zweijährige Tochter. Die Frau fand nicht die Kraft, die offensichtlich willensstarke Kleine abzustillen und sich wieder um sich selbst zu kümmern. Mit stützenden Gesprächen, Ernährungsberatung, einer Woche Wellness-Urlaub ohne Familie und dem kooperierenden Ehemann konnte sie sich wieder erholen und nach dem Abstillen eigene Kräfte aufbauen.

»Tabletten einnehmen, ist das zu viel verlangt?«

Ihre Vitalität sei wieder da, berichtete die Patientin strahlend. Aber das von mir verordnete Medikament gegen Warzen habe sie nicht genommen, weil sie nachts die mittlerweile Zweieinhalbjährige wieder angelegt habe und stille. Ja, hat sie denn nichts dazugelernt? Die ganze Energie, Mühe und Fürsorge von meiner Helferin und mir – völlig umsonst!


Der nächste Patient erklärte mir dann, dass er entgegen meinem Rat sein Antidepressivum vor zwei Monaten weggelassen hat, weil er es nicht mehr braucht. Seit zirka zwei Wochen spürt er aber wieder so einen komischen Druck im Brustkorb. Ob ich nicht ein EKG machen könne?


Ich atmete tief ein und aus: Denn das gesamte diagnostische Programm hatten wir bei dem Patienten wegen der gleichen Beschwerden bereits im letzten November gemacht – daraufhin wurde die antidepressive Medikation verordnet.


Die vielen netten und kooperativen Patienten, die noch am gleichen Nachmittag kamen, konnten den Frust, den diese Beiden bei mir hinterlassen hatten, nicht mehr ausgleichen. Leider. Denn wie heißt es doch so schön: Jeder Arzt bekommt die Patienten, die er verdient. Na, da sollte ich mal drüber nachdenken – aber lieber erst, wenn der November vorbei ist.

Anzeige