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Massentierhaltung Reserveantibiotika weiterhin Futterzusatz

Gesundheitspolitik Autor: Petra Spielberg

Bei der Massenhal­tung von Puten und Hühnern werden zu über 40 % Reserve­antibiotika eingesetzt. Bei der Massenhal­tung von Puten und Hühnern werden zu über 40 % Reserve­antibiotika eingesetzt. © danielschoenen – stock.adobe.com
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Mitte September hat sich das Europäische Parlament dagegen ausgesprochen, Reserveantibiotika künftig humanmedizinischen Zwecken vorzubehalten und bei Tieren weitgehend zu verbieten. Kritiker fürchten, dass der massenhafte Einsatz der Medikamente in der Tierhaltung weiteren Resistenzen Vorschub leisten wird.

Nach Angaben des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) wurden 2019 rund 670 Tonnen Antibiotika in der Tiermedizin in Deutschland eingesetzt. In der Humanmedizin waren es 339 Tonnen.

Eines der meistgenutzten Antibio­tika in der Massentierhaltung ist dem BVL zufolge das Reserveantibiotikum Colistin mit 74 Tonnen, gefolgt von Makroliden mit 59 Tonnen. Insgesamt, so das BVL, wurden bei Puten und Hühnern zu über 40 % Reserveantibiotika eingesetzt.

Dem massenhaften Einsatz dieser Mittel wollten zahlreiche EU-Abgeordnete, Vertreter von Umweltorganisationen und der Ärzteschaft, darunter die Bundesärztekammer (BÄK) und der Weltärztebund, einen Riegel vorschieben. Mit einer vom Europaabgeordneten der Fraktion der Grünen/EFA Martin Häusling über den Umweltausschuss eingebrachten Entschließung gegen den Vorschlag der EU-Kommission für eine neue EU-Tierarzneimittelverordnung sollte die bisherige Praxis der Antibiotikagabe in der Tiermedizin beendet werden. Doch der Einspruch scheiterte am Widerstand der Mehrheit des Europaparlaments.

Bundesärztekammerpräsident warnt vor fatalen Folgen

„Das EU-Parlament hat es versäumt, die Gesundheit von Menschen endlich über die Profitinteressen der Fleischindustrie zu stellen. Die konservativ-liberale Mehrheit setzt das Herumeiern der EU-Kommission fort und riskiert damit, dass Reserveantibiotika wie bisher auch massenhaft ins Futter und Wasser gemischt und an Zehntausende Tiere in industriellen Massentierhaltungen verabreicht werden“, kritisiert Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), den Beschluss.

Und auch BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt warnt davor, dass es, sollte die Verordnung – wie von der EU-Kommission geplant – Ende Januar 2022 in Kraft treten, bald keine wirksamen Reserveantibiotika für die Behandlung von schweren Erkrankungen bei Menschen mehr geben werde. Die Folgen wären fatal. Bereits heute sterben EU-weit jährlich rund 33.000 Menschen an Infektionen, gegen die keine Antibio­tika mehr helfen.

Zwar sieht der von der EU-Kommission vorgelegte Vorschlag ebenfalls eine Reglementierung des Einsatzes von Antibiotika in der Tiermast vor. Nach dem Willen der Brüsseler Behörde soll die Liste der Reserveantibiotika allerdings keine konkreten Wirkstoffgruppen beinhalten, sondern lediglich Kriterien für deren Auswahl, wie eine hohe Bedeutung für die menschliche Gesundheit und ein „nicht-essenzieller“ Bedarf in der Tiermedizin.

Den Kritikern der geplanten Regulierungen war diese Formulierung zu vage. Sie fürchten, dass sich dadurch an der Praxis der industriellen Tierhaltung nichts ändern wird. Im Fokus der Kritik steht vor allem die sog. Metaphylaxe, bei der nicht nur kranke, sondern auch sämtliche gesunde Tiere antimikrobiell behandelt werden, um eine Ausbreitung von Infektionen in den Beständen zu verhindern. Hiervor machen die Mastbetriebe regen Gebrauch.

Pillen vor die Säue

Sachlich, spannend und unterhaltsam zeigen der Tierarzt Rupert Ebner und die Literaturwissenschaftlerin Eva Rosenkranz in ihrem Buch auf, wie sich die moderne Landwirtschaft durch den massenhaften Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung ad absurdum geführt hat, mit immensen Folgen für Tiere und Umwelt – und für die menschliche Gesundheit aufgrund der Entwicklung resistenter Keime. Gnadenlos benennen sie eine verfehlte Agrarpolitik, deren Akteure aus Politik, Landwirtschaft, Behörden und Veterinärmedizin es bis heute nicht geschafft haben, die Weichen flächendeckend neu zu stellen. Mit Blick auf die Humanmedizin machen Ebner und Rosenkranz deutlich, dass sich Veränderungen nur herbeiführen lassen, wenn Tierärzte und Ärzte im Sinne des One-Health-Konzepts gemeinsam nach Auswegen aus der Misere suchen, damit bakterielle Infektionen nicht zur nächsten globalen Gesundheitskrise werden.

Rupert Ebner/Eva Rosenkranz: „Pillen vor die Säue“, 256 S.,
Verlag: oekom (2021), ISBN-13: 978-3-96238-206-3, Buch: 20 €, ePub 15,99 €

Ärzte, Umweltverbände und Politiker der Grünen, Sozialdemokraten und Linken forderten daher neben einem Verzicht auf fünf Wirkstoffgruppen in der Tiermast, die die WHO als Reserveantibiotika einstuft, auch einen Systemwechsel hin zu einer tierfreundlicheren und artgerechteren Tierhaltung. Eine ganz andere Position vertreten dagegen der Bundesverband der praktischen Tierärzte (bpt) und die Bundestierärztekammer. Nur etwa 5 % der Antibiotikaresistenzen stammten nachgewiesenermaßen aus der Tierhaltung, bekräftigt bpt-Präsident Dr. ­Siegfried Moder. Auch das Bundeslandwirtschaftsministerium wirbt damit, dass – abgesehen von den Reserveantibiotika – seit 2011 die Menge der eingesetzten Antibiotika in der Tierhaltung deutlich zurückgegangen sei. Ministerin Julia Klöckner (CDU) sieht hier allerdings in erster Linie die Branchen und nicht den Gesetzgeber in der Pflicht, zu handeln. Um das EU-Parlament auf seine Position einzustimmen, hatte der bpt mit einer Petition dazu aufgerufen, alle zugelassenen Antibiotika EU-weit künftig weiter für den Einsatz in der Tiermedizin vorzusehen. Der Verband hatte dabei u.a. damit argumentiert, dass künftig auch Haustiere nicht mehr mit Antibiotika behandelt werden dürfen, sollte es zu einem Verbot bestimmter Wirkstoffklassen kommen.

Auf der Suche nach einem „One-Health-Konzept“

Ein vom Verein Ärzte gegen Massentierhaltung und der DUH in Auftrag gegebenes juristisches Gutachten widerlegt diese Behauptung. „Es ist beschämend, wie hier versucht wird, Tierfreundinnen und -freunden Angst zu machen, ihre geliebten Katzen oder Hunde würden gefährdet“, konstatiert DUH-Agrarexpertin Reinhild Benning. Das Interesse einiger Tierärztinnen und -tierärzte, die bis zu 78 % ihres Umsatzes durch den Verkauf von Tierarzneimitteln scheffelten, sei dabei so durchschaubar wie unmoralisch, so Benning. Dass Infektionen und die Bildung von Resistenzen nicht nur durch eine direkte Übertragung vom lebenden Tier auf den Menschen entstehen können, sondern auch durch Krankheitserreger auf Fleischerzeugnissen und anderen Lebensmitteln, ist inzwischen gut belegt. Jüngster Beweis ist ein Gutachten der Universität Greifswald im Auftrag der DUH. Die Forscher konnten nachweisen, dass sich auf jeder dritten bis vierten Probe von in Discountern erworbenem Putenfleisch Krankheitserreger befanden, die gegen Antibiotika resistent sind. Als besorgniserregend hoch stufte das Gutachten insbesondere die Rate der Keime ein, gegen die selbst Reserveantibiotika nicht mehr wirken. Eine Übertragung von Antibiotikaresistenzen über kontaminierte Lebensmittel auf die Konsumenten ist auch aus Sicht von Professor Dr. Christian Menge, Fachtierarzt für Mikrobiologie und Leiter des Instituts für Molekulare Pathogenese am Friedrich-Loeffler-Institut in Jena, unzweifelhaft. Prof. Menge zählt zu jenen Wissenschaftlern aus der Veterinär- und Humanmedizin, die sich bereits seit Jahren im Rahmen des von der Weltgesundheitsorganisation, der EU und zahlreichen Regierungen geforderten „One-Health-Ansatzes“ darum bemühen, Strategien und Therapieoptionen zu entwickeln, die dazu beitragen sollen, Infektionsketten frühzeitig zu unterbrechen und Infektionen zu verhindern. So hat das Konsortium „Infect-Control“, dem Prof. Menge angehört, z.B. ein Modul entwickelt, mit dem Studierende der Humanmedizin für mögliche Übertragungswege von Resistenzgenen zwischen Menschen, Tieren und der Umwelt sensibilisiert werden sollen. Prof. Menge räumt gleichwohl ein, dass es trotz zahlreicher Forschungsbemühungen bislang kein umfassendes, anwendungsbereites One-Health-Konzept gibt. Dennoch dürften Antibiotika nicht dazu dienen, landwirtschaftliche Managementfehler auszugleichen, so der Wissenschaftler. Hier sei global ein Umdenken, insbesondere bei der Metaphylaxe von Tierkrankheiten, dringend notwendig, fordert er.

Medical-Tribune-Bericht

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