Kooperation mit Selbsthilfegruppen Vorurteile hinterfragen, Synergien nutzen
Aufgrund der starren Trennung und Konkurrenz zwischen den einzelnen Säulen des Gesundheitswesens (Prävention, ambulante Medizin, Krankenhäuser, Rehabilitation) sitzt der Patient zwischen den Stühlen ungeklärter Zuständigkeiten und fühlt sich dadurch oft überfordert, alleingelassen oder nicht mehr ganzheitlich verstanden.
Die Arbeit von Selbsthilfegruppen stellt einen hohen volkswirtschaftlichen und ökonomischen Wert dar. Wenngleich dies auch nicht ihre primäre Intention ist, können Selbsthilfegruppen doch zur Kostenersparnis im Gesundheits- und Sozialwesen beitragen. Die modernen Informationstechnologien führen oft zu einer einseitigen, unkritischen oder reißerischen Darstellung medizinischer Sachverhalte. Selbsthilfegruppen sind hier zunehmend als qualifiziertes Gegengewicht gefragt.
Patienten erhalten in Selbsthilfegruppen „Hilfe zur Selbsthilfe“. Sie können all die individuellen Erfahrungen, die andere Gruppenmitglieder zur gleichen Erkrankung über Jahre sammeln mussten, für sich nutzen. Über ihre Selbsthilfegruppen finden Patienten Wege zur aktiveren Krankheitsbewältigung. Dies führt nach einer Reihe von Studien zu besseren Behandlungsergebnissen. Und schließlich können Gleichbetroffene sich in Selbsthilfegruppen miteinander emotional austauschen und gegenseitig stützen. Aber auch Hausärzte können von der Kooperation mit Selbsthilfegruppen profitieren. Patienten aus Selbsthilfegruppen übernehmen im Arzt-Patienten-Kontakt eine aktivere Rolle. Damit können sie als „Koproduzent“ zu schnelleren und besseren Behandlungsergebnissen beitragen, die behandelnden Ärzte werden dadurch entlastet. Bei chronischen und komplexen Erkrankungen ist der Hausarzt oft überfordert, die gesamte bio-psycho-soziale Dimension des Patienten adäquat zu berücksichtigen. Selbsthilfegruppen können hier im Sinne eines multimodalen Behandlungsansatzes wichtige Teilbereiche zur Krankheitsbewältigung übernehmen.
Pauschale Vorbehalte hinterfragen
Das gängigste Vorurteil lautet: Selbsthilfegruppen sind ärztefeindlich, sie bringen ihre Mitglieder gegen die Ärzte auf und mischen sich in das Behandlungskonzept der Ärzte ein. Dem ist entgegenzuhalten: Selbsthilfegruppen sehen zwei Arten von Expertise: zum einen das professionelle „Expertenwissen“ der Ärzte und zum anderen das „Erfahrungswissen“ der Betroffenen. Im optimalen Fall werden beide Expertisen ganz zum Wohle des Patienten in einem synergistischen – und keinesfalls konkurrierenden – Sinn zusammengeführt. Der behandelnde Arzt bringt seinen medizinischen Fachverstand ein, basierend auf Evidenz und eigener Erfahrung. Die Selbsthilfegruppe bringt ihre vielseitigen Erfahrungen zum Umgang mit der Erkrankung und zur Krankheitsbewältigung ein. Selbsthilfegruppen ergänzen das professionelle System, sie sind keine neuen Versorgungsanbieter.
Ein weiteres, häufig gehörtes Vorurteil ist, dass Selbsthilfegruppen die Autorität der Ärzte untergraben würden. Patienten aus Selbsthilfegruppen wollen über alles diskutieren und bei allem mitbestimmen. Dabei sollte man aber bedenken: Die besten Behandlungsergebnisse werden bei einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung erreicht, in der die Prinzipien „partizipative Entscheidungsfindung“ und „informierte Einwilligung“ angewandt werden. Soweit vom Patienten gewünscht und mitgetragen, sollte vom Arzt ein solches partnerschaftliches Verhältnis angestrebt werden. Dieses System ist dem tradierten System mit paternalistisch-benevolentem Arzt und passiv eingestelltem Patienten deutlich überlegen. Beklagt wird des Öfteren auch, dass Selbsthilfegruppen größtenteils von der Pharmaindustrie gesteuert würden. Tatsächlich gibt es (leider) Selbsthilfegruppen, die sich über ein Sponsoring von der Pharmaindustrie zu Marketing-Zwecken instrumentalisieren lassen.
Die Spitzenverbände der Selbsthilfe haben dieses Problem jedoch erkannt und „Leitsätze der Selbsthilfe für die Zusammenarbeit mit Personen des privaten und öffentlichen Rechts, Organisationen und Wirtschaftsunternehmen, insbesondere im Gesundheitswesen“ verabschiedet. Die allermeisten Selbsthilfegruppen arbeiten ehrlich unter Respektierung dieser Leitsätze ohne jegliches Sponsoring vonseiten der Pharmaindustrie.
Und noch ein Vorurteil: Selbsthilfegruppen-geschulte Patienten sind anspruchsvoll, sie setzen ihre Ärzte mit langen Gesprächen unter Druck und fordern medizinisch nicht indizierte Wunschverordnungen. Tatsache ist: Patienten, die selbst aktiv zu ihrer Gesundung und zu einem besseren Krankheitsverlauf beitragen wollen, haben insbesondere zu Krankheitsbeginn und in Krisensituationen einen größeren Gesprächsbedarf. Wenn dann aber zur richtigen Zeit von Arzt und Patient gemeinsam die richtigen Schritte besprochen werden, dann kann im weiteren Behandlungsverlauf viel Zeit gespart und falsches Anspruchsdenken abgebaut werden.
Praktische Tipps für Hausarztpraxen
Den schnellsten und besten Überblick über die gesundheitsbezogene Selbsthilfe erhält man unter www.nakos.de. NAKOS ist die bundesweite Aufklärungs-, Service- und Netzwerkeinrichtung im Feld der Selbsthilfe. Sie haben dort Zugriff zu einer umfassenden Kontakt-Datenbank mit Adressen der meisten Selbsthilfegruppen in Ihrer Region. Und Sie finden dort die Adresse der „Selbsthilfe-Kontaktstelle“ Ihrer Region. Setzen Sie sich dann mit der Selbsthilfe-Kontaktstelle Ihrer Region persönlich in Verbindung – es lohnt sich! Sie können mit der Selbsthilfe-Kontaktstelle auch klären, wie Ihre Patienten zukünftig an Selbsthilfegruppen vermittelt werden sollen.
Wenn Sie aufgrund von Praxisbesonderheiten Schwerpunkte für bestimmte Krankheitsbilder haben, dann macht es Sinn, mit den entsprechenden Selbsthilfegruppen zu sprechen. Wollen Sie die Zusammenarbeit weiter vertiefen, gibt es hierfür mehrere Ansätze:
- Auslegen von Flyern der Selbsthilfegruppen im Wartezimmer.
- Bereitstellung von Praxisräumen für Treffen von Selbsthilfegruppen.
- Bereitstellung von Informationsmaterialien zu einzelnen Krankheitsbildern für Selbsthilfegruppen.
- Vorträge zu medizinischen Sachfragen bei Selbsthilfegruppen.
- Zusammenarbeit von Ärzten und Selbsthilfegruppen in Qualitätszirkeln.
- Es kann sehr hilfreich sein, wenn aus dem Kreis Ihrer Medizinischen Fachangestellten eine „Selbsthilfebeauftragte der Praxis“ die Zusammenarbeit mit den Selbsthilfegruppen koordiniert.
Selbsthilfegruppen können dabei helfen, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern. Sie können Hausärzte entlasten und den Praxisalltag beleben. Hausärztinnen und Hausärzte sollten zu ihrer regionalen Selbsthilfe-Kontaktstelle Kontakt aufnehmen und sich mit Selbsthilfegruppen vernetzen.
Die Zahlen sprechen für Selbsthilfegruppen
- Bundesweit gibt es ca. 100 000 örtliche Selbsthilfeinitiativen, mehr als 100 bundesweite Selbsthilfeorganisationen chronisch Kranker und behinderter Menschen sowie rund 250 professionell betriebene Selbsthilfe-Kontaktstellen.
- Etwa 2 – 3 Millionen Menschen sind in Deutschland in der Selbsthilfebewegung aktiv, dies mit steigender Tendenz.
- Die Akzeptanz von Selbsthilfegruppen nimmt zu. 78 % der Bevölkerung Deutschlands äußern sich zustimmend zu Selbst- hilfegruppen (Umfrage DAK).
81545 München
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (12) Seite 38-40
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.