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Was hilft im Konzerthaus gegen Husten-Stakkato?

Autor: Dr. Frauke Höllering

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Endlich raus aus der Praxis und rein ins Konzerterlebnis, denkt sich MT-Kolumnistin Dr. Frauke Höllering. Es könnte so schön sein, wenn da nicht ...

Ich höre Brahms. Melancholie senkt sich wie die Dämmerung auf mein Gemüt, und der Herbstregen prasselt auf die Scheiben. Ich denke an den Praxisalltag, schniefende, regentriefende Kolonnen von Patienten, die uns viel Routine, aber wenig fröhliche Höhepunkte bieten.


Die Zuckerspiegel entgleisen unter Süßigkeiten-Dauerbeschuss, ebenso die Blutdruckwerte. Üppige Braten und Eintöpfe lassen die Harnsäurewerte Amok laufen. Und eine nicht enden wollende Flut von grippalen Infekten lässt mich vergessen, dass ich zur Therapie deutlich komplizierterer Krankheitsbilder ausgebildet wurde.


Nun also Brahms. Vielleicht sollte ich zu einem heiteren Mozartkonzert wechseln und mich darauf freuen, dass die Opernsaison begonnen hat? Schon verfins­tern sich meine Gedanken wieder in Erinnerung an das letzte Konzert: Die Lichter gingen aus und auf die Bühne trat Philippe Jaroussky, der beste Countertenor unserer Zeit. Zart schwangen sich die ersten Töne in den Himmel, da kam das erste Räuspern von links hinten. Kurz danach antwortete ein tiefer, feuchter Husten aus den vorderen Reihen.

»Mit den ersten Tönen beginnt das Räuspern«

Nun erbebte das Orchester in einem strahlenden Furioso; das nutzten all jene, die das Kitzeln im Hals zuvor tapfer bezwungen hatten, zu einem befreienden Husten-Stakkato. Kostbare fünf Minuten blieb es still, bis auf die engelsgleiche Stimme des Solisten, dann begann das Hüsteln, Räuspern und Husten von vorn.


Nun ergriff es auch die Dame neben mir. Nachdem sie ihren Rachenschleim geräuschvoll bezwungen hatte, kam ein neues Geräusch ins Spiel: ein kerniges Schnappen der Handtasche, dann das zermürbende Knistern eines Bonbonpapieres, endlos. Als sie die Süßigkeit endlich von ihrer Hülle befreit hatte, war ich mit der Geduld am Ende. Nur noch mit halbem Ohr dem Sänger lauschend, meditierte ich über die Fragen: „Warum husten die Leute erst, wenn das Konzert begonnen hat? Erkranken sie so akut? Oder ist das ihre Art, sich zu versichern, dass sie noch der Erde verhaftet sind, wenn die Töne gar zu himmlisch werden?“


Zorn wallte in mir auf: Sollen sie doch zu Hause bleiben, wenn sie Husten haben! Oder wären die Ränge dann leer? Sollte man die Konzertsaison in den Sommer legen, weil Erkältungen dann eher selten sind? Oder waren die „Huster“ allesamt an COPD
erkrankt und husteten immerzu, ohne dessen überhaupt noch gewahr zu werden?


Ach, Brahms ohne Husten im Hintergrund ist eigentlich wunderschön! Insbesondere ohne ein noch schlimmeres Krankheitsbild, das sich in den Musiksälen ausgebreitet hat: die Konzert-Logorrhö, deren Opfer ich neulich wieder war. Ein charmantes Damenquartett war angetreten, uns mit seinen Streichinstrumenten virtuos durch allerlei Stimmungen und Musikstile zu führen. Das erwartungsvolle Publikum plauderte angeregt.

»Husten kann man nicht abstellen, Quatschen schon«

Das Licht ging aus, das Publikum plauderte ungerührt weiter. Die ersten Töne erklangen, aber das war für die Zuhörer keineswegs ein Grund, die Gespräche einzustellen – „Schau mal, die tollen roten Schuhe!“ und „Was die für ein knappes Kleid trägt!“. Hinter mir wurde der Bericht über das letzte Urlaubserlebnis noch flüs­ternd abgeschlossen, neben mir getuschelt.


Nun gut, wir befanden uns in einer Kleinstadt. Aber die Logorrhö war unglaublich! Schwoll die Lautstärke des Quartettes an, sprach man eben lauter, um noch gehört zu werden. Kurze Peinlichkeiten gab es, wenn ein akut einsetzendes Pia­no die Sprecher demaskierte; aber heilend waren diese Erlebnisse nicht. Da ich das Getuschel nicht ausblenden konnte, dachte ich über die Genese dieses Krankheitsbildes nach. Husten kann man nicht dauerhaft unterdrücken, Quatschen schon. Litten die Leute unter Wahrnehmungsverlust? Wähnten sie sich vor dem heimischen Fernseher?


Vorsichtig schaute ich mich um, konnte aber weder Chips- noch Popcorntüten entdecken. Jetzt aber fiel polternd ein Glas um; kein Wunder, viele hatten ihre Getränke mit in den Saal genommen. Also doch Wohnzimmeratmosphäre? Warum klatschte man dann begeistert nach jedem Stück? Wenn man die Musik doch mag und weiß, dass hier keiner CD gelauscht wird, sondern echten Musikern: Warum hält man nicht einfach mal die Klappe? Aus Egozentrik oder pathologischem Realitätsverlust?


Ich höre immer noch Brahms. Keiner hus­tet, keiner quatscht, der Regen hat nachgelassen. Ich genieße die letzten Töne und freue mich auf meine Patienten morgen. Ihre Erkältungen mögen zwar langweilig sein, aber sie husten nur, wenn ich keine Musik höre.

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