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Was soll dieser infektiologische Egoismus?

Autor: Dr. Frauke Gehring

Um ansteckende Krankheiten wie die Masern auszurotten, müssen alle an einem Strang ziehen. Um ansteckende Krankheiten wie die Masern auszurotten, müssen alle an einem Strang ziehen. © iStock/Anna Anisimova; MT
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Diphtherie, Polio, Masern: Impfen oder lieber nicht? Wenn Kinderkrankheiten zur Reifeprüfung werden und warum dieses Verhalten von Egoismus zeugt.

Es ist viele Jahre her, dass ein Kollege von mir sein Kind an die Masern-Enzephalitis verlor. Er hatte die Impfung nicht nur für überflüssig, sondern sogar für falsch gehalten – damals gab es Gerüchte, die Impfung könne Autismus auslösen. Ich ließ meine Söhne dennoch impfen. Natürlich hatte ich Angst, den beiden damit auch zu schaden, aber wir Eltern vertrauten den Erfahrungen der Kolleg(inn)en von der STIKO.

Nun sind 30 Jahre vergangen und immer noch verhindern auch via Internet verbreitete, aber längst widerlegte Vorurteile einen ausreichenden Impfschutz. „Ich lasse mein Kind nicht impfen. Vorher wandere ich lieber aus“, lese ich im Netz. Welch ein Egoismus, sich auf die anderen zu verlassen, die brav ihre Impfungen ertragen und somit eine Herdenimmunität garantieren!

In der Vergangenheit waren es ebenfalls die anderen, die dafür sorgten, dass Krankheiten wie Polio ausgerottet werden konnten und Diphtherie und Masern rar wurden. Und zwar aus gutem Grund. „Ich wusste schon als Schuljunge, wie man einen Luftröhrenschnitt macht“, berichtete mir mein Vater vor Jahren stolz und beschrieb mir, wo man längs und wo man quer zu schneiden habe. „Dann muss man den Schnitt mit der Hülle eines Kulis offen halten“, fügte er noch hinzu und zeigte mir ein altes Fahrtenmesser, das er ohne Weiteres eingesetzt hätte.

Mein Vater hatte noch erlebt, wie sein kleiner Bruder an Diphtherie gelitten und zum Glück ohne Einsatz des Fahrtenmessers überlebt hatte. Der war damals nur einer von vielen. Ich selbst habe jedoch in 35 Jahren medizinischer Arbeit nie einen Diphtheriekranken gesehen – dank der flächendeckenden Impfung.

Eine Mitarbeiterin in der Abteilung, in der ich vor ebenso langer Zeit promovierte, war schwer gehbehindert. „Ich litt an Polio“, erklärte sie mir irgendwann, um dann zu ihren Reagenzgläsern zurückzukehren – mühselig und an Gehstützen, die man damals noch „Krücken“ nannte. Ich hingegen hatte gefühlt ein halbes Dutzend Polioimpfungen bekommen, denn der überall zu lesende Spruch „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“ hatte zu Reihenimpfungen geführt. Ich weiß heute noch, wie eklig dieses Zeug schmeckte, allem Zucker zum Trotz. Aber ich bin dennoch dankbar, dass man es mir verpasst hatte. Ich kann schmerzfrei laufen und musste nie eine eiserne Lunge von innen sehen.

Und heute? Impfungen werden infrage gestellt, immer wieder kommt es zu Masernausbrüchen. Es sind nicht nur einige Latte-Macchiato-Mütter vom Prenzlauer Berg, die ihre Kinder nicht mit Impfungen belästigen wollen, sondern auch viele andere. „Das Durchmachen von Kinderkrankheiten ist wichtig für die persönliche Reifung!“, erklärte mir eine Waldorfmutter im Brustton der Überzeugung. Und sie war nicht die einzige.

Wenn ich mir aber meine eigenen Kinder und viele ihrer Altersgenossen ansehe, so verlief ihre Entwicklung trotz Impfungen durchaus positiv. Ganz nebenbei hatten sie so vielseitige andere Infekte, dass sie auf Masern und Mumps gerne verzichteten. Warum sollten auch gerade diese beiden Virusinfektionen die Entwicklung zum klugen und gelassenen Erwachsenen ermöglichen?

Doch halt: Bei mir selber vermisse ich schon mal etwas Reife hin und wieder! Wenn ich albern werde, im Fußballstadion aus vollem Herzen singe oder irgendetwas veranstalte, was einer Großmutter nicht angemessen ist. Wäre ich durch eine Masernerkrankung gravitätischer geworden? Bestimmt nicht! Und das würde ich auch gar nicht wollen. Lasst uns die Kinder schützen und selber das Kind in uns hin und wieder genießen!

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