Selbstverwaltung Wer hat eigentlich das Sagen?

Gesundheitspolitik Autor: H. Glatzl

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Die ärztliche Selbstverwaltung wird im deutschen Gesundheitssystem wesentlich von Körperschaften geregelt. Doch die Körperschaften sind ins Gerede gekommen. Für manche gelten die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) als Selbstbedienungsladen für hochbezahlte, aber machtlose Bürokraten. Ist die Selbstverwaltung ein Popanz zwischen Gewerkschaft und Staatsorgan? Hat sich der Ständestaat überlebt?

„Sind wir auf dem Weg von der korporatistischen Selbstverwaltung zur Staatsmedizin?“ Mit dieser Provokation eröffnete KBV-Chef Köhler im Sommer 2009 eine Podiumsdiskussion. Das Problem ist heute aktueller denn je angesichts der Tatsache, dass Körperschaften fortschreitend als mittelbare Staatsverwaltung Aufgaben übernehmen. Die Frage nach der demokratischen Legitimation von Institutionen als Ersatzgesetzgeber stellt sich immer drängender wie z. B. beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA).

„Wettbewerb und korporatistisches System im Gesundheitswesen“ lautet die Überschrift eines wissenschaftlichen Symposions zu Beginn des Jahres. Fazit der Veranstaltung: Der Korporatismus wird durch den Ausbau der G-BA-Kompetenzen einerseits gestärkt. Andererseits gerät er nicht nur wegen der Häufung staatlicher Eingriffe, sondern auch wegen der Zunahme des Wettbewerbs stärker unter Druck. Wohin der Weg führt, weiß derzeit niemand. Am wenigsten wohl die Politik.

Wer stellt die Versorgung sicher?

In den letzten Jahren hat die Politik alle Steuerungsebenen gleichzeitig gestärkt. Für den Wettbewerb stehen der Kassenwettbewerb und Selektivverträge. Das Mehr an staatlicher Steuerung manifestiert sich im Gesundheitsfonds. „Der Ausbau der G-BA-Kompetenzen indiziert die wachsende Bedeutung des Korporatismus“, so umreißt Prof. Dr. Stefan Huster, Ruhr-Universität Bochum, das Problem. Der Schwachpunkt dabei: Korporatistische Strukturen haben keinen Bestandsschutz. In einem Wettbewerbssystem stellt sich gleichzeitig die Frage, wer den Auftrag zu erfüllen hat, die Versorgung sicherzustellen. Hier besteht erkennbar eine Regelungslücke. Das Grundrecht der ärztlichen Berufsfreiheit steht systemimmanent im Widerspruch zu zentralen Qualitätssicherungs-

aspekten (Mindestmengen, Transparenz der Qualitätsergebnisse). Der Trend zur „Vermarktlichung“ höhle die Legitimationen der KV aus. Der Druck zur Verstaatlichung unterminiere die gemeinsame Selbstverwaltung, und der Drang zur Stärkung des G-BA deckt dessen schwache demokratische Legitimation auf.

Erkennbar auf dünnes Eis begibt sich die Diskussion dazu mit dem ehemaligen Vorsitzenden des G-BA, Dr. Rainer Hess, und dem Patientenvertreter im G-BA, Wolf-Dieter Trenner, wenn es darum geht, Fragen zur Legitimation und Verantwortung in einem korporatistischen Gesundheitssystem abzuklären. Schwer wiegt der Hinweis des vormaligen G-BA-Chefs, dass ein Stimmrecht im G-BA nur Beteiligten wie der Ärzteschaft und den Krankenkassen zugestanden werden könne, die gleichzeitig auch Budgetverantwortung trügen. Die Pharmaindustrie und Patientenverbände bleiben unter diesen Bedingungen außen vor, bedauert Prof. Dr. Hans Lietzmann, Leiter der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung an der Universität Wuppertal. Ex-G-BA-Chef Hess macht bei der Patientenvertretung allerdings zusätzlich die Individualisierung der jeweils Betroffenen als Hindernis aus. So werden Patientenvertreter als Fremdkörper zwischen den etablierten „Bänken“ gesehen. Kosten-Nutzen-Bewertungen, bei denen der G-BA entscheidet, was der Gesellschaft eine bestimmte Behandlung wert ist, stoßen aufgrund ihrer innovations- und wirtschaftspolitischen Tragweite zunehmend an Grenzen, die die Entscheidungskompetenzen der gemeinsamen Selbstverwaltung nach Meinung der Öffentlichkeit überschreiten.

Eine Lösung dieses Problems könnte die schrittweise Verlagerung von Handlungskompetenzen auf die regionale Mikroebene sein, so die Experten. Der Leistungswettbewerb müsste als dominanter Steuerungsmechanismus etabliert werden, denn ohne Leistungswettbewerb sei der Kassenwettbewerb sinnlos. Kollektives Handeln soll künftig nur dort stattfinden, wo es funktional überlegen oder unverzichtbar ist. Versicherungs-, Behandlungs- und Leistungsmarkt sind dabei interdependente Wettbewerbsfelder, wobei Morbi-RSA und Budgetbereinigung den technischen Kern bilden, Selektivverträge aber den ökonomischen Kern. Die Regelversorgung basiert dann auf selektivvertraglich vereinbarten Leistungen mit Mindeststandards. Kassenindividuelle Beitragssätze senden verlässliche Preissignale für Qualität und Effizienz aus.

Was ist Korporatismus?

Korporatismus ist ein politisch-wirtschaftliches Modell, in das organisierte Interessen in der Weise dauerhaft eingebunden sind, dass sie sowohl an der Formulierung als auch an der Ausführung politischer Entscheidungen mitwirken. Beim Korporatismus stehen der Staat auf der einen Seite und monopolistische Interessensverbände mit staatlicher Anerkennung auf der anderen Seite, was ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis begründet. Die Bündelung und Organisation von Einzelinteressen in Interessensverbänden führt dazu, dass das Machtungleichgewicht zwischen den Mitgliedern mit ihren vielen Einzelinteressen und dem Staat als oberste politische Institution ausgeglichen wird. Im Gegensatz zum Pluralismus werden beim Korporatismus die Interessensverbände gezielt in den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess eingebunden sowie staatliche Aufgaben auf diese Interessensverbände übertragen. Weiteres Merkmal des Korporatismus ist die Zwangsmitgliedschaft. Für den Staat bringt die Einbindung der Interessensverbände in die Politik sowie die Übertragung staatlicher Aufgaben auf Interessensverbände Arbeitsentlastung und eine bessere Implementierung politischer Entscheidungen.

Der Weg von der korporatistischen zur wettbewerblichen GKV sei insoweit bereits unumkehrbar. Solange es der Reformpolitik allerdings am konzeptionellen Gestaltungswillen fehle, werde der Steuerungswirrwarr aber nicht überwunden. Die Frage sei nicht, ob, sondern nur wann „uns das korporatistische System um die Ohren fliegt“, wie der Bürgerbeteiligungsforscher Lietzmann es drastisch umschreibt.

Hans Glatzl

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (4) Seite 25-27
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.