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Werden Senioren durch häufige Arztbesuche kränker?

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

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Jeder fünfte gesetzlich Krankenversicherte ab 65 Jahren hat häufigen Kontakt mit Vertragsärzten. Dass dies für die etwa 3,5 Millionen Betroffenen sowie die Versorgung der anderen Patienten gut ist, bezweifelt Professor Dr. Hendrik van den Bussche.

Wer pro Jahr 50 und mehr Kontakte mit Vertragsarztpraxen hat bzw. mindestens zehn verschiedene Praxen und/oder mindestens drei Praxen derselben Fachrichtung kontaktiert, der ist ein "Häufignutzer".

Mit dieser Definition werteten Prof. van den Bussche, Direktor i.R. des Instituts für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, und Kollegen die Daten der Gmünder Ersatzkasse (heute Barmer GEK) aus ( Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundheitswesen (ZEFQ) (2013) 107, 435–450) .

Betrachtet wurden 123 000 Versicherte im Alter ab 65 Jahren im Jahr 2004. Das Ergebnis: 19 % der Älteren sind "Häufignutzer" der vertragsärztlichen Versorgung. Dies entspricht hierzulande 3,5 Mio. gesetzlich Krankenversicherten. Gut ein Drittel von ihnen erfüllt zwei oder alle drei der Zuodnungskriterien.

Den Wissenschaftlern sind zwei Hauptgruppen aufgefallen:

  • Sehr alte, multimorbide und relativ häufig auch pflegebedürftige Menschen. "Das dürften ungefähr 2,5 Mio. Versicherte sein. Sie haben im Durchschnitt 71 Praxiskontakte pro Jahr, d.h. mehr als 1,5 Kontakte pro Woche."

    Zu den Krankheiten mit den höchsten relativen Risiken für Häufignutzung gehören Harninkontinenz, Anämie, Neuropathien, Niereninsuffizienz und Krebs. Auch Demenz, Parkinson und Rheuma/CPA spielen eine große Rolle.

  • Der andere Typ ist relativ jünger, weniger häufig multimorbid bzw. deutlich seltener pflegebedürftig und dadurch gekennzeichnet, dass er viele Ärzte – häufig auch der selben Disziplin – in Anspruch nimmt. Etwa 1,7 Mio ältere GKV-Versicherte konsultieren im Schnitt zwölf Praxen pro Jahr.

    Das Aufsuchen vieler Arztpraxen ist in ers­ter Linie mit Angst- und somatoformen Störungen assoziiert oder mit Diagnosen, die als häufig psychisch mitbedingt angesehen werden (sexuelle Störung, Migräne/chronischer Kopfschmerz, Schwindel und gynäkologische Probleme). Ferner führen auch hier somatische Krankheiten wie Neuropathien, Krebs, Anämie und Rheuma/CPA zu vielen Arztkontakten.


Alarmierend empfindet Prof. van den Bussche diese Studienergebnisse, weil es medizinisch keinen Beleg dafür gebe, dass mit diesen Kontaktzahlen auch eine Qualitätssteigerung einhergeht.

Gefahr von unerwünschten Nebeneffekten

Das Wissenschaftlerteam schreibt: "Bei allen diesen Kontakten entstehen Untersuchungsergebnisse, Dia­gnosen, Lifestyle-Empfehlungen, Überweisungen und – nicht zuletzt – Rezepte, die alle vom Patienten verstanden, integriert und umgesetzt werden müssten, was nicht nur praktisch unmöglich, sondern auch mit der Gefahr von unerwünschten Nebeneffekten verbunden ist."

Doch es sind nicht nur Polypharmazie und kontradiktorische Empfehlungen, die Prof. van den Bussche stören. "Vor allem muss man davon ausgehen, dass diese Mengen an Kontakten Zeit und andere Ressourcen beanspruchen, die besser diejenigen Patienten zugute kämen, die wirklich einer intensiven Diagnostik und Therapie bedürfen."

Er befürchtet hier "Fehlversorgung".Bei anderen GKV-Patienten macht sich das in kurzen Zuwendungszeiten des Arztes, langen Wartezeiten in der Praxis und weit in der Zukunft liegenden Facharztterminen bemerkbar.

Die Wissenschaftler bezweifeln, dass allein monetäre Maßnahmen wie die bisherigen Alternativvorschläge zur abgeschafften Praxisgebühr als Bewältigungsstrategie viel taugen.

Ältere Menschen bräuchten einen koordinierten Behandlungsansatz, "der mit einer Zahl von beteiligten Spezialisten in zweistelliger Höhe und deren bekanntlich ungeregeltem Informationsaustausch untereinander nur schwer in Einklang zu bringen ist".

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