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Zu sexueller Belästigung in Praxis und Krankenhaus nicht schweigen

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

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Blickt der Arzt seinen Patientinnen stets tief in die Augen oder legt der Pfleger der Kollegin ab und an ungefragt den Arm um die Schulter, so kann das zum Problem werden. Routine im medizinischen Alltag lässt die Grenze zur sexuellen Belästigung vergessen.

Im Jahr 2012 hatte eine 16-Jährige einen Krankenpfleger der Berliner Charité bezichtigt, sie während der Narkose missbraucht zu haben. Die Einrichtung entließ den Mann und berief eine externe Expertenkommission ein, der auch die frühere Bundesjustizministerin Brigitte Zypries angehörte. Nachgewiesen werden konnte dem langjährig angestellten Pfleger schließlich nichts, er musste wieder eingestellt werden.

Die Charité nahm den Fall zum Anlass, um der sexualisierten Gewalt im Arbeitsumfeld auf den Grund zu gehen. In verschiedenen Arbeitsbereichen und mit unterschiedlichen Zielgruppen wird nun zu dem Thema geforscht und gelehrt. Über konkrete Aktivitäten berichteten Experten der Charité in einer gesundheitspolitischen Veranstaltung, zu der die SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen hatte.

Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte Dr. Christine Kurmeyer stellte den von der Charité entwickelten Leitfaden „Grenz­überschreitungen, Grenzverletzungen, Abgrenzungen“ vor. Dieser informiert über sexuelle Belästigung und Diskriminierung im Kontext medizinischer und pflegerischer Behandlung. Darin wird beschrieben, was in einer konkreten Situation getan werden kann – und zwar auch dann, wenn er/sie sich noch nicht sicher ist, ob es sich tatsächlich um einen sexuellen Übergriff handelt.

Wie sich effektiv gegen Regelverstöße wehren?

Geraten wird in dem Leitfaden dazu, die belästigende Person zur Rede zu stellen und Belästigungen sofort energisch zurückzuweisen. Vorgesetzte sollen schriftlich im Detail informiert werden, wenn die verbale Zurückweisung ignoriert wird. Empfohlen wird, sich Kollegen anzuvertrauen, da eine belästigende Person meist schon vorher auffällig geworden ist und ein gemeinsames Vorgehen deshalb effektiv sein kann.

Geraten wird, Zeugen zu suchen und Beweise wie Briefe, E-Mails und Handy-Nachrichten zu sammeln sowie Tathergänge genau aufzuschreiben. Alles kann mit einer eidesstattlichen Erklärung bei einem Anwalt hinterlegt und für eine spätere Beschwerde verwendet werden. Der Personal-/Betriebsrat sollte spätes­tens dann eingeschaltet werden, wenn Belästigungen wiederholt erfolgen und weder mündliche noch schriftliche Aufforderungen zum Unterlassen fruchten. Angesprochen wird auch der Mut von Zeugen. Es sei „wichtig, aufmerksam gegenüber Regelverletzungen zu sein und Wege zu finden, Regelverstöße nicht stillschweigend hinzunehmen“.

Grenzüberschreitungen sind unerlässlich, um in der Medizin Erfolg zu haben“, erklärte Dr. Kurmeyer. Als Beispiel führte sie an, dass Patienten sich entblößen oder über Dinge sprechen müssen, die ihnen unangenehm sind. „Der vertrauensvolle Dialog ist wegen der Verletzungen der intimen Grenzen wichtig“, so die Klinikerin. In 99 % der Fälle fühlten sich Patienten gut aufgehoben. Doch es gebe auch Situationen, wo sich die Frage stelle, ob zu intervenieren sei.

Dr. Kurmeyer verwies darauf, dass Grenzverletzungen zwischen den Professionen, aber auch zwischen medizinischem Personal und Patienten und umgekehrt stattfinden. Sie verwies auf Grenzverletzungen zwischen Dozenten und Studenten sowie Studenten untereinander. Vieles, so Dr. Kurmeyer, geschehe nicht in böser Absicht. „Wenn man täglich mit Grenzverletzungen zu tun hat, schleicht sich eine gewisse Routine ein.“

„Am schlimmsten aber ist“, so die Sozialpsychologin, „wenn nicht dar­über gesprochen wird.“

Untersuchung von Frauen mit Krankenschwester im Raum

Die Charité arbeitet an einem Projekt, um die Grenzen zur sexuellen Belästigung zu definieren. Befragt werden Mitarbeiter zur Arbeitsplatzsituation und zu Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen – von un­an­genehmen Blicken bis zur Vergewaltigung. Das berichtete Dr. Sabine Oertelt-Prigione vom Institut für Geschlechterforschung in der Medizin. Die Wissenschaftlerin möchte auch keine Stigmatisierung der Geschlechterrollen: „Es ist nicht immer der Oberarzt, der die Schwes­ter betatscht.“

Die lei­tende Oberärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik, Dr. Meryam Schouler-Ocak, sprach von einem „fließenden Übergang“ und davon, dass es von kulturellen Faktoren abhängt, wo sexuelle Belästigung beginnt.

In manchen Kulturen sei es schon ein Problem, einer Frau die Hand zu geben, sagte Professor Dr. Jalid Sehouli, Direktor der gynäkologischen Klinik. Personal und Patienten benötigten hierüber Informationen; eine Fortbildung dazu sollte so selbstverständlich werden wie zur Hygiene. Kritisch sprach er an, dass noch immer „Männer Frauen untersuchen, ohne dass eine Schwester im Raum anwesend ist“.
Die Charité versteht sich als Vorreiter. Ihr Konzept sollen auch andere Häuser nutzen können. Patienten könnten ebenfalls profitieren; sie sollen – so der Plan – gleich zu Behandlungsbeginn einen Leitfaden zum Thema sexuelle Belästigung ausgehändigt bekommen.

Dr. Kurmeyer machte gegenüber Thomas Isenberg, dem gesundheitspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, deutlich, dass eine routinehafte Umsetzung nicht ohne zusätzliches Geld zu realisieren ist. Der Politiker versprach, im Herbst das Thema bei der Diskussion zur Krankenhausplanung anzusprechen.  


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