
Zwanghaftes Blutzuckermessen: Psychotherapie hilft Typ-1-Diabetespatientin mit Angststörung

Die Patientin war modisch gekleidet und fiel durch einen sehr zackigen, soldatenähnlichen Gang auf. Sie wirkte angespannt. Ihre Haare hatte sie streng zurückgebunden. Der Diabetes bestand seit dem 16. Lebensjahr und sie war mehrfach geschult. Zur Zeit der Vorstellung lag ihr HbA1c nach eigenen Angaben bei 9 %. Die Patientin berichtete, sie halte ihren Blutzucker bei 200 mg/dl, um Hypoglykämien zu vermeiden, und esse nie mehr als 2 BE auf einmal. Sie vermied körperliche Bewegung, hatte sogar ihr Hobby, das Tanzen, aufgegeben. Sie gab an, in kurzen Abständen (teils nur fünfminütige Intervalle) zu messen, insbesondere auf der Arbeit. Auch nachts stelle sie sich immer einen Wecker, um Blutzucker zu messen.
Normalerweise würde man erwarten, dass Patienten mit Angst vor Hypoglykämien benennen können, was sie befürchten. Sie haben Angst vor Kontrollverlust, v.a. in der Öffentlichkeit, hilflos zu sein oder einen Herzinfarkt zu erleiden, einen Autounfall zu verursachen, zu sterben. Diese Patientin konnte jedoch nicht erklären, was sie befürchtete. Sie hatte nie eine schwere Unterzuckerung mit Fremdhilfe erlebt.
Blutzuckermessen zur Angstreduktion
Immer wenn die Patientin das Gefühl hatte, sie würde unterzuckern, maß sie sofort den Blutzucker. Dadurch fühlte sie sich beruhigt. Es konnte aber passieren, dass ihr gleich anschließend der Gedanke kam: „Aber was passiert, wenn der Wert sich gleich ändert?“ Die Angst stieg unangenehm an, sie maß wieder und die Angst verringerte sich.
Angststörungen werden durch Vermeidung aufrechterhalten
Was waren die aufrechterhaltenden Faktoren dieses Problemverhaltens? Durch das Messen erlebte die Patientin eine Modulationsmöglichkeit innerer Zustände. Der Anstieg von sehr unangenehmen Angstgefühlen vor und das sofortige Verschwinden nach der Messung führte zu einer negativen Verstärkung des Verhaltens. Auch das Vermeiden von größeren BE-Mengen, von Bewegung und von Werten unter 200 mg/dl, bestätigte sie darin, dass sie nur aufgrund dieses Verhaltens nicht unterzuckerte. Um dieses Verhaltensmuster durchbrechen zu können, musste die Patientin erleben, dass auch ohne ihre „Vorsichtsmaßnahmen“ nichts passierte.
Der Psychotherapeut muss die Diabetestherapie verstehen
Ihr zu sagen, sie solle einfach weniger messen, wäre nicht zielführend gewesen. Dies hatte der behandelnde Diabetologe schon vorgeschlagen – ohne Erfolg. Zudem war ihre einzige Motivation, sich auf die Psychotherapie einzulassen, ihr finanzielles Problem mit den Teststreifen.
In der ersten psychotherapeutischen Sitzung wurde ihr das Therapierational erklärt: wie ihr Vermeidungsverhalten das Problem aufrechterhielt. Dies konnte sie nachvollziehen. Anschließend galt es, das Messverhalten von ihren Ängsten zu entkoppeln. Dazu legten wir die gleiche Anzahl von Messungen auf Uhrzeiten in regelmäßigen Abständen fest. Zum Beispiel sollte sie um 10.00 Uhr messen und dann erst wieder um 10.30 Uhr. Wenn sie um 10.00 Uhr nicht das Gefühl hatte, sie würde unterzuckern, sollte sie aber trotzdem „umsonst“ messen. Dadurch blieb die verstärkende Wirkung (Abbau von Angst) aus. Wenn sie um 10.20 Uhr das Gefühl hatte, sie würde unterzuckern, sollte sie noch zehn Minuten abwarten. In dieser Zeit vergessen manche Patienten schon, dass sie eigentlich „unterzuckern“.
In jedem Fall machen sie die Erfahrung, dass nichts passiert, wenn sie nicht messen, obwohl sie die Befürchtung hatten, sie seien unterzuckert. Durch diese Methode war die Patientin schnell in der Lage, die Anzahl der Messungen deutlich zu reduzieren, auch bei niedrigeren Blutzuckerzielwerten und größeren BE-Mengen mit entsprechenden Insulindosen. Allerdings beobachtete sie, dass es ihr in bestimmten Situationen besonders schwerfiel, auf die Messungen zu verzichten. Als Beispiel nannte sie den letzten Abend mit ihrer besten Freundin, die ins Ausland auswandern wollte. Auf die Frage, wie es ihr an diesem Abend emotional ging, konnte sie jedoch nichts benennen.
Innere Unruhe: Unterzucker, Angst oder etwas anderes?
Als „therapeutisches Hilfs-Ich“ bot ich ihr an: „Ich könne mir vorstellen, ich wäre bei einem solchen Ereignis traurig.“ Sie schaute mich sehr überrascht an und sagte: „Ja, das ist es. Ich bin traurig“. Die Erkenntnis, dass sie in Situationen, in denen sie sich traurig fühlt, mehr das Bedürfnis hat, zu messen, änderte sehr viel für sie.
Daraufhin explorierten wir ihre Kindheitserlebnisse und es wurde deutlich, dass ihre Eltern sie für Fröhlichkeit belohnt und für „belastende“ Gefühle durch Liebesentzug bestraft hatten. Dadurch hatte die Patientin nie lernen können, innere emotionale Regungen als Wut oder Traurigkeit zu erkennen und daraus sinnvolle Handlungsstrategien zu entwickeln. Wenn sie innere Unruhe spürte, bewertete sie diese als Unterzuckerung und maß den Blutzucker.
Fazit für die Praxis
Patienten, die mit ihrer Insulintherapie Stoffwechselprobleme erzeugen und diese aufgrund von Ängsten nicht aufgeben können, benötigen eine Verhaltenstherapie mit einem diabeteserfahrenen Therapeuten. Kenntnisse von Insulinwirkkurven, glykämischem Index, Abweichungen im Messsystem, Hypoglykämie-Symptomen usw. sind notwendig, zum einen, damit die Patienten sich vertrauensvoll auf das Therapierational einlassen können, zum anderen, damit der Therapeut sinnvolle Therapieschritte gestalten kann. Zudem liegen die Probleme manchmal tiefer verankert, als es zunächst erscheint.Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).