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Strafrecht im Arztberuf – Missbrauchsvorwurf erfordert professionelle Hilfe

Niederlassung und Kooperation , Interview Autor: Michael Reischmann

Sex mit Ex-Patienten ist rechtlich sauber, der Behandlungsabschluss sollte aber dokumentiert werden. Sex mit Ex-Patienten ist rechtlich sauber, der Behandlungsabschluss sollte aber dokumentiert werden. © Mirshod – stock.adobe.com
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Verfahren gegen Ärzte, denen sexueller Missbrauch unter Ausnutzung des Behandlungsverhältnisses vorgeworfen wird, gehören zum Alltag von Fachanwalt Christoph Klein. Bei den Folgen der Me-too-Debatte sieht er eine Schieflage.

Herr Klein, in den Medien tauchen Fälle nach § 174c StGB nur anekdotisch auf. Liegt das daran, dass sie oft ohne Gericht beigelegt werden?

Christoph Klein: Die kriminalpolitische Bedeutung des § 174c StGB hat in den letzten Jahren zugenommen. Der Gesetzgeber geht von „mehreren Hundert“ Fällen pro Jahr aus. Richtig ist, dass es im Vergleich zu anderen Sexualdelikten relativ wenige Anklagen und Urteile gibt. Wenn sich die Betroffenen nicht zur Anzeige entschließen, bleiben die Taten unerkannt. Die Ermittlungsbehörden sind für Kollateralschäden, die solche Verfahren für die Betroffenen beruflich und privat haben können, sensibilisiert. In den meisten mir bekannten Fällen wurde diskret ermittelt. Verfahren, die ohne Anklage eingestellt werden, bleiben so meist ohne große öffentliche Wahrnehmung.

Wie kann die Einstellung eines Verfahrens erreicht werden?

Klein: Mit einem Täter-Opfer-Ausgleich können viele Anklagen verhindert und Verfahren zur Einstellung gebracht werden. Ob ein Fall dafür geeignet ist, sollte von einem erfahrenen Rechtsanwalt geprüft werden, bevor mit dem potenziell Geschädigten Kontakt aufgenommen wird. Am häufigsten werden Ermittlungsverfahren jedoch eingestellt, weil sich ein hinreichender Tatverdacht nicht nachweisen lässt oder der Beschuldigte im Fall geringer Schuld bereit ist, eine Auflage an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen.

Wann kommen Sie als Anwalt üblicherweise ins Spiel?

Klein: Das ist unterschiedlich. Für die Betroffenen wäre es ideal, wenn sie sich möglichst frühzeitig für die Beauftragung eines im Medizinstrafrecht tätigen Strafverteidigers entschlössen. Es kommt aber nicht selten vor, dass Betroffene ohne anwaltliche Vertretung oder durch Vertretung des Familienanwalts, der nicht auf die Problematik spezialisiert ist, auf einen günstigen Ausgang vertrauen. In solchen Fällen entscheiden sich Mediziner oft erst nach Anklageerhebung oder manchmal auch erst kurz vor dem Gerichtstermin für die Beauftragung eines Spezialisten.

Das Berufsrecht untersagt Ärzten und Psychotherapeuten ebenfalls sexuelle Kontakte zu Patienten. Hat das eine verschärfende Wirkung?

Klein: Das Berufsrecht sensibilisiert die Mediziner möglicherweise und gibt den aufsichtsführenden Organen disziplinarrechtliche Möglichkeiten. Ihm kommt aber in anderer Hinsicht eine meines Erachtens viel größere Bedeutung zu.

Es kommt nicht selten vor, dass Mediziner – vielleicht auch weil sie falsch beraten wurden – eine geringe Sanktion per Strafbefehl, also eine Verurteilung ohne öffentliche Hauptverhandlung, akzeptieren, damit die Sache vom Tisch ist und sie sich wieder auf den Praxisbetrieb konzentrieren können. Doch wer sich im Ermittlungsverfahren geständig einlässt – möglicherweise auch nur, um ein unkompliziertes Verfahrensende zu erreichen –, sollte im Blick haben, dass die berufsrechtlichen Aufsichtsorgane regelmäßig auf die Erklärungen, die im Strafverfahren abgegeben werden, zurückgreifen und auf dieser Grundlage disziplinarrechtliche Sanktionen prüfen und verhängen dürfen.

Ich erinnere mich an einen Fall, in dem im Lauf der Jahre gegen den Arzt drei Ermittlungsverfahren eingeleitet und eingestellt wurden, teilweise gegen Zahlung einer Geldauflage an eine gemeinnützige Einrichtung. Dennoch leitete die Approbationsbehörde nach dem dritten Verfahren ein Approbationswiderrufsverfahren ein und zwar unter Bezugnahme auf die Erklärungen, die der Arzt ohne anwaltliche Vertretung im Strafverfahren selbst verfasst hatte. Letztlich konnten wir den Widerruf zum Glück abwenden.

Haben der verbesserte Schutz der sexuellen Selbstbestimmung – „Nein heißt nein“ – und die Me-too-Debatte nach Ihrem Eindruck dazu geführt, dass mehr Fälle sexueller Belästigung zur Anzeige kommen?

Klein: Subjektiv möchte ich diese Frage mit „ja“ beantworten. Die Kriminalstatistik dazu bleibt aber abzuwarten. Nach meinem Eindruck gibt es seit diesen Debatten eine höhere Bereitschaft, sich als Opfer zu erkennen zu geben. Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren wohl auch als Folge dieser Kampagnen die Opferrechte gestärkt. Wer behauptet, Opfer zu sein, bekommt vielfältige Unterstützung vom Staat, Verbänden und Beratungsstellen – und zwar schon zu einem frühen Verfahrenszeitpunkt und oft nur aufgrund seiner subjektiven Schilderungen.

Diese institutionelle Unterstützung kann in der Sache gerechtfertigt sein, ist aber mit der Unschuldsvermutung nur schwer zu vereinbaren, da der Opferstatus zementiert wird, bevor der Schuldnachweis durch ein Gericht erbracht wurde. Diese Entwicklung ist bedenklich und führt meines Erachtens zu erheblichen Ungerechtigkeiten, mitunter auch zu Fehlurteilen. Im Extremfall steht auf der einen Seite der Beschuldigte, auf der anderen Seite das Opfer, an seiner Seite ein Opferschutzverband, eine Opferanwältin, eine Psychologin, die aufgrund der Schilderungen der Anzeigenden eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert, und eine psychosoziale Prozessbegleiterin. Das hinterlässt Wirkung, auch bei Richtern, davon bin ich überzeugt.

Wenn ich jetzt lese, dass der Hamburger Senat eine Gesetzesinitiative verfolgt, die die Befragungsrechte der Angeklagten und Verteidiger in Sexualstrafverfahren zum Schutz von Opfern beschneiden soll, fehlen mir die Worte. Dieser Entwicklung müssen wir entgegenwirken.

Sind bestimmte Arztgruppen häufiger von Vorwürfen betroffen?

Klein: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Bei Medizinern, die ihre Patienten körperlich untersuchen, reichen die Vorwürfe von einer körperlichen Untersuchung, die im Grenzbereich nicht mehr durch die medizinische Indikation gerechtfertigt ist, bis zu Übergriffen, die mit der indizierten Behandlung nichts mehr zu tun haben, wo der Patient also bewusst getäuscht wird. Dann gibt es die relevante Gruppe der psychotherapeutischen Behandler, die explizit in § 174c Abs. 2 StGB erwähnt wird. Hier wird häufig der Vorwurf erhoben, dass die Therapeuten sich auf eine Affäre während der laufenden Behandlung mit den Patienten eingelassen haben.

Schützt die Einwilligung des Pa­tienten vor Strafbarkeit?

Klein: Die gesetzgeberische Intention ist der Schutz des Vertrauensverhältnisses, das körperlich oder psychisch beeinträchtigte Personen gegenüber den sie behandelnden Personen haben müssen. Der Patient soll darauf vertrauen können, dass der Behandler nur sein Wohl im Blick hat und sein Vertrauen nicht missbraucht. Bei der Frage, der Wirksamkeit der Einwilligung ist daher zu differenzieren.

Bei der körperlichen Behandlung ist immer zu prüfen, wie ausgeprägt das Vertrauensverhältnis aufgrund der Behandlung war und wie der Behandler dies konkret missbraucht hat. In einem durchschnittlichen Behandlungsverhältnis hat die Einwilligung des Patienten keine strafausschließende Wirkung, erst Recht nicht, wenn diese durch Täuschung erschlichen wurde. Wenn eine Patientin mit Schulterbeschwerden in die Untersuchung ihrer Brust einwilligt, weil der Orthopäde ihr das mit Täuschungsabsicht als ­diagnostisch notwendig verkauft hat, schließt diese Einwilligung selbstredend die Strafbarkeit nicht aus.

Das Buch zur Serie

Was sollten Ärzte unbedingt über das praktizierte Strafrecht und mögliche Folgen ihres Handelns wissen? Wie können sie gegenüber den Justizbehörden agieren, wenn der Ernstfall eintritt? Die Kölner Fach­anwälte für Strafrecht Christoph Klein und Dr. Jan-Maximilian Zeller haben die Antworten in einem für Nicht-Juristen gut lesbaren Buch zusammengefasst. Diese Medical-Tribune-Serie gibt Auszüge wieder.

Klein/Zeller: Strafrechtliche Risiken des Arztes, 2021, 168 Seiten, ecomed ­Medizin, ecomed-Storck GmbH, Preis: 39,99 Euro, ISBN 978-3-609-16538-7
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Bei Psychotherapie geht die Rechtsprechung grundsätzlich davon aus, dass sich Patient und Therapeut aufgrund des Behandlungsverhältnisses nicht auf Augenhöhe begegnen, sodass eine Einwilligung des Patienten in sexuelle Handlungen nicht wirksam ist und die Handlungen des Therapeuten nicht legitimiert. In allen Fällen gilt aber: Ist die Behandlung lege artis beendet, besteht kein strafrechtliches Risiko.

Es kommt auch nicht darauf an, ob die sexuelle Handlung außerhalb der Praxisräume erfolgt?

Klein: Ist eine Behandlung nicht lege artis abgeschlossen, sollte ein Behandler meines Erachtens keinen intimen Kontakt zu Patienten haben. Ein sexueller Kontakt zwischen zwei Therapieterminen außerhalb der Praxis kann problematisch sein. Das ist kein unrealistisches Szenario. Es kommt gelegentlich vor, dass sich Behandler und Patient attraktiv finden und privat treffen – aber sich die Erwartungen nicht erfüllen. Strafanzeigen wegen eines Sexualdeliktes sind nicht selten durch persönliche Enttäuschungen motiviert; die Anzeigenden handeln mit Belastungseifer.

Was ist eine „Erheblichkeitsschwelle“?

Klein: Verboten ist jede sexuelle Handlung, die gemäß § 184h StGB „erheblich“ ist. Damit will der Gesetzgeber sexuell niederschwellige Handlungen, wie das Streicheln am Oberschenkel oder den Kuss auf den Hals, straffrei lassen. Ob die Erheblichkeitsschwelle überschritten wurde, ist aber immer fallspezifisch unter Betrachtung aller Umstände zu beurteilen.

Auf was wird in der Regel geklagt: Straftat und Schmerzensgeld?

Klein: Die Folge eines Verstoßes gegen § 174c StGB ist die strafrechtliche Sanktion. Gerichte können im Strafverfahren aber auch den Geschädigten Schmerzensgeld zusprechen, wenn diese das beantragt haben.

Wie wird vor Gericht festgestellt, ob ein Missbrauch vorlag oder ob Vorwürfe nur erfunden wurden?

Klein: Im Strafprozess erfolgt die Überzeugungsbildung des Gerichts immer mit einer Beweisaufnahme. Alle Beweismittel werden gewürdigt. Ein Anzeigeerstatter wird immer als Zeuge vernommen und kann dann von allen Prozessbeteiligten befragt werden. Im Fall der absichtlichen Falschbelastung durch Kränkung wird es dem Verteidiger und seinem Mandanten also darauf ankommen, dies durch Befragung und Beweisanträge nachzuweisen. Regelmäßig handelt es sich um eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, das heißt, bis auf die Aussage des Anzeigeerstatters und des Mediziners liegen keine weiteren objektivierbaren Beweise vor. Hier kann es auf jedes Wort ankommen. Die Beweiswürdigung ist kompliziert und bedarf großer Erfahrung bei allen professio­nellen Verfahrensbeteiligten.

Die Lösung, wenn es zwischen zwei Menschen „funkt“, ist also, das Behandlungsverhältnis zu beenden und eine rein private Liebesbeziehung aufzubauen – und dies sicherhalber zu dokumentieren?

Klein: Ja, die echte Liebesbeziehung ist natürlich straflos. Damit ist jeder auf der sicheren Seite, denn sie findet in der Regel öffentlich statt, im Rahmen der Familie und Freunde, die dies auch bestätigen könnten. Bei weniger eindeutigen Konstellationen kann sich die Dokumentation des eindeutigen Behandlungsabschlusses in der Patientenakte lohnen.

Medical-Tribune-Interview

Christoph Klein, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Köln Christoph Klein, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Köln © Privat
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