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Akutpatienten Digitale Ersteinschätzung nach 150 Sekunden

Praxismanagement , Patientenmanagement Autor: Michael Reischmann

Akutpatienten werden mit der digitalen Hilfe an den richtigen Ort der Versorgung gelotst. Akutpatienten werden mit der digitalen Hilfe an den richtigen Ort der Versorgung gelotst. © MQ-Illustrations – stock.adobe.com
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Samstags und sonntags zwischen 9 und 11 Uhr – da werden Leiden in der Bevölkerung besonders akut. Darauf deutet jedenfalls die Kontaktaufnahme zum Ärztlichen Bereitschaftsdienst (116117) hin. Das hierbei eingesetzte System zur medizinischen Ersteinschätzung bietet nun neue Optionen.

Die Klagen von Krankenhäusern über eine massive Überlastung ihrer Notaufnahmen durch Fehlinanspruchnahme von Patienten, die sich selbst zum Notfall erklären, sind sattsam bekannt. Auch Rettungsdienste und Ärztlicher Bereitschaftsdienst (ÄBD) werden gerne von Bürgern genutzt, obwohl es Versorgungsalternativen gibt.

Abhilfe soll die Software SmED, die „Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland“, schaffen. Es wird damit keine Diagnose gestellt, sondern eine Empfehlung abgegeben, ob eine ärztliche Versorgung sofort, schnellstmöglich, binnen 24 Stunden oder in den nächsten Tagen stattfinden sollte, und welche Versorgungsebene – Rettungsdienst, Notaufnahme, Arzt- oder Bereitschaftspraxis – angemessen erscheint.

Eine wissenschaftlich begleitete Erprobung in elf KV-Regionen fand im Rahmen des Innovationsfondsprojekts „DEMAND“ statt. Dessen zentrale Ergebnisse werden Ende April öffentlich vorgestellt. Anekdotisch ist beispielsweise von Berliner Bürgerinnen zu hören, dass es mit dem Telefonservice 116117 nicht sonderlich gut klappt und der spontane Besuch einer Notaufnahme nach wie vor zweckdienlicher ist.

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi), das SmED – eine Schweizer Entwicklung – an die deutschen Verhältnisse adaptiert hat, berichtet anderes. Auf einer Online-Statistikseite (Neudeutsch „Dash­board“) zeigt das Zi bundesweit aggregierte Auswertungen der Ersteinschätzungen, die über die Hotline 116117 erfolgen.

Demnach riefen 2021 rund 1,2 Mio. Menschen die 116117 an. Die telefonische Ersteinschätzung dauerte im Schnitt 150 Sekunden. In dieser Zeit stellte das Personal mithilfe der Software im Mittel knapp 18 Fragen und dokumentierte 1,5 Beschwerden pro Anrufer. 3 % der Hilfesuchenden wurden als medizinische Notfälle erkannt und an den Rettungsdienst (112) weitergeleitet.

Aufgrund der geschilderten Symptome wurde bei fast 40 % eine „schnellstmögliche ärztliche Behandlung“ und bei einem Drittel eine vertragsärztliche Abklärung innerhalb von 24 Stunden als sinnvoll erachtet. Bei 20 % wurde keine dringliche Behandlungsbedürftigkeit festgestellt. Die häufigsten Beschwerden waren Übelkeit und Fieber. 

Das höchste Aufkommen an Anrufen ist samstags und sonntags von 9 bis 11 Uhr. Monatlich finden derzeit rund 130.000 telefonische Einschätzungen statt, Tendenz steigend.

Hotline liefert frühe Hinweise zum Infektionsgeschehen

Für den Mai kündigt das Zi die tägliche Aktualisierung des Dashboards an. Dann würden sich „nahezu in Echtzeit Veränderungen bei gesundheitlichen Beschwerden“ erkennen lassen. Damit seien z.B. Rückschlüsse auf das Infektionsgeschehen möglich, tageszeitliche und saisonale Muster würden erkennbar. Einrichtungen können sich so besser vorbereiten. Und: „Für die Versorgungsforschung, in der bundesweite Daten in der Regel erst nach Monaten und Jahren zur Verfügung stehen, ist dies ein Quantensprung“, so Zi-Chef Dr. Dominik von Stillfried. Zusammen mit der KV Bayerns und dem RoMed-Klinikum Rosenheim erprobt das Zi in einer Machbarkeitsstudie die Kombination von SmED mit dem Manchester-Triage-System. Zwischen 8 und 21 Uhr priorisierte eine Fachkraft des Klinikums. Patienten in den Erst­einschätzungsgruppen „sofort“ und „sehr dringend“ sowie solche, die bestimmte Untersuchungen oder Behandlungen, z.B. eine Wundversorgung, benötigten, wurden direkt in die Notaufnahme geschickt. Patienten mit den Triagestufen „normal“, „nicht dringend“ sowie „teilweise dringend“ wurden zusätzlich durch eine Fachkraft der KV mit SmED eingeschätzt. Ging daraus eine Empfehlung zur vertragsärztlichen Behandlung hervor, erfolgte diese entweder in der benachbarten kassenärztlichen Bereitschaftspraxis oder die Patienten konnten vor einer Weiterleitung in eine Praxis zunächst per Videotelefonie einem Arzt vorgestellt werden.

Online-Selbsteinschätzung

Anfang Dezember 2021 startete auf der Website 116117.de das „Patienten-Navi online“. Hierbei kommt eine Weiterentwicklung von SmED zum Einsatz. Medizinische Laien können so online zur Selbsteinschätzung ihrer Beschwerden gelangen. Wer am Ende den Rat erhält, die 116117 anzurufen, kann es mit einer angezeigten PIN dem Hotline-Personal erlauben, diese Selbsteinschätzung einzusehen. Erprobt wird das in Baden-Württemberg, Bremen, Nordrhein und Sachsen-Anhalt.

Fast 95 % der selbsteinweisenden Patienten, die nach SmED zugeordnet wurden, wurden in der Bereitschaftspraxis behandelt, da sie sich abends und am Wochenende eingefunden hatten. Von den Patienten, die eine Videokonsultation nutzten und nicht eingewiesen wurden, erhielt die Hälfte umgehend einen Termin in einer Praxis. Die andere Hälfte sah sich bereits ausreichend ärztlich beraten, berichtet Dr. von Stillfried. Die meisten Patienten hätten die zweistufige Vermittlung durch Fachkraft und Videotelefonie positiv aufgenommen, eine Handvoll habe dies abgelehnt. Das sei erfreulich, meint der Zi-Chef. Denn auf diese Weise könne dem Patientenstau-Effekt entgegengewirkt werden. Studien zeigten, dass die Qualität der Versorgung von Notfällen in den Notaufnahmen leide, wenn sich zu viele Hilfesuchende im Behandlungsprozess befänden und damit die Wartezeiten zunehmen. Das führe statistisch zu einem Anstieg vermeidbarer Todesfälle.

Noch intensiver mit den Kliniken kooperieren

Die KVen unterhalten mittlerweile an jedem zweiten Krankenhaus mit Notfallstufe eine Bereitschafts­praxis. 45 % der ambulant in Notaufnahmen behandelten Patienten werden dort allerdings während der Praxisöffnungszeiten versorgt. Die KVen setzen sich deshalb beim G-BA dafür ein, dass die Notaufnahmen künftig alle selbsteinweisenden Patienten ohne sofortigen Behandlungsbedarf in die vertragsärztliche Versorgung weiterleiten müssen. Die KV Bayerns will auf Basis der Machbarkeitsstudie ihr Netz mit 135 Bereitschaftspraxen (davon 119 an Kliniken) und dem ÄBD zu einer noch engeren Kooperation mit den Kliniken weiterentwickeln. „Während der Praxisöffnungszeiten könnten Fachkräfte weitere Steuerungsaufgaben in der zweiten Stufe der medizinischen Ersteinschätzung übernehmen“, schlägt KV-Chef Dr. Wolfgang Krombholz vor. Das Ziel: vertragsärztlich behandelbare Patienten direkt in gut erreichbare Praxen vermitteln oder vorab zur Ersteinschätzung ein Videogespräch vereinbaren. „In zahlreichen Notaufnahmen könnte es so bereits ausreichen, eine zusätzliche Fachkraft vorzuhalten.“ Der Gesetzgeber müsse dafür die Finanzierungsbasis schaffen.

Medical-Tribune-Bericht

Dr. Dominik Graf von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) Dr. Dominik Graf von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) © Zi/Georg J. Lopata
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