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Alltag für mich, Wahnsinn für die Neue

Autor: Dr. Frauke Gehring

Ein Berufswechsel kann so erfrischend sein. Plötzlich wirkt jede Banalität aufregend. Ein Berufswechsel kann so erfrischend sein. Plötzlich wirkt jede Banalität aufregend. © Drobot Dean – stock.adobe.com; MT
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Gewohnheit für den einen, der absolute Wahnsinn für den anderen: Der Hausarztberuf ist vielseitig und abwechslungsreich.

Ich bin ein Glückspilz! Wir haben tatsächlich eine Kollegin gefunden, die bei uns die Weiterbildung für Allgemeinmedizin absolviert. Und sie ist nicht nur liebenswert, sondern auch außerordentlich erfahren. Viele Jahre hat sie u.a. als Oberärztin einer Klinik in der Abteilung für Früh­rehabilitation gearbeitet. Dann entschloss sie sich zum Glück, ihrem alten Interesse für Allgemeinmedizin nachzugeben und noch einmal ein neues berufliches Kapitel aufzuschlagen.

Das wollte wohl überlegt sein.„Ich frage mich, ob das nicht ein bisschen langweilig ist?“, zweifelte sie in einem unserer Vorgespräche. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen: „Ich kenne kein abwechslungsreicheres Fach!“, versicherte ich ihr, während sich allerlei Szenen vor meinem inneren Auge abspielten: Zum Beispiel eine Reanimation im Praxisflur oder die Versorgung eines Patienten im Zuckerschock mit bis dahin unbekanntem Diabetes und natürlich persönliche Dramen, die zunächst einmal Trost erforderten.

„Vielleicht habe ich immer noch das alte Vorurteil, dass man in der Hausarztpraxis nur Erkältungen und Fußpilz behandelt“, lächelte sie selbstkritisch. „Man stellt sich immer vor, dass alle interessanten Patienten auf Nimmerwiedersehen in die Facharztpraxen abwandern.“

Dass dies in unserer ländlich geprägten Praxis schon gar nicht der Fall ist, hat sie schon in den ersten Wochen erlebt. Wie oft rutschte ihr in dieser Zeit „Das ist ja der Wahnsinn!“ heraus. Als dieser Ausspruch mal einen Tag ausblieb, hab ich natürlich gleich nachgefragt, ob etwas nicht stimmt. Sie brauchte daraufhin nicht eine Sekunde, um mir den „Wahnsinn des Tages“ zu berichten. Diesmal war es nur der Drucker, der in konsequenter Bockigkeit die falschen Formulare einzog.

Der Wahnsinn ist nämlich äußerst vielseitig: Er kann sich um schwierige Patienten, interessante Krankheitsbilder, spannende Krankenhausberichte, persönliche Schicksale, aber auch um undurchschaubare Formularanforderungen oder abstürzende Computer drehen.

Die Kollegin stellt sich all dem mit Empathie, Feuereifer und Fleiß. „Ich bin ja hier erst mal wieder nur der Stift!“, bemerkte sie neulich in der Erkenntnis, dass in der Praxis oft ganz andere Kenntnisse und Fertigkeiten gefordert sind als in der Klinik. Für einen „Stift“ weiß sie natürlich viel zu viel und sie ermöglicht mir einen völlig neuen Blick auf die Praxisarbeit.

Ich hatte mich an vieles gewöhnt, trottete quasi so durch, machte manches geradezu reflexhaft. Jetzt muss ich mich immer wieder hinterfragen: „Warum mache ich das so und nicht anders? Ist das so gut, dass man es weitergeben kann, oder muss ich mein Handeln überdenken?“

Das alles erfrischt ungeheuer und bringt neuen Schwung. Plötzlich sehe ich wieder, wie unglaublich vielseitig mein Beruf ist, aber auch, wie herausfordernd und erschöpfend. Ich weiß jetzt, warum ich meinen Mittagsschlaf so sehr brauche, weil ich nämlich ständig etwas anhöre, kläre, therapiere oder regele.

Eine Wunde begutachten, dann eine Patientin akupunktieren, schnell jemanden impfen, vor dem Gang ins Sprechzimmer, wo ein verlassener Ehemann mir sein Herz ausschütten will, noch ein Rezept unterschreiben („Warum nimmt der immer noch Omeprazol? Ich muss gleich erst mal mit dem Patienten reden!“) und einen Blick auf ein gerade laufendes Belastungs-EKG werfen – das ist mein ganz normaler Alltag. Kurz gefasst: Der Wahnsinn! Aber immer noch erfüllend und der schönste Beruf der Welt. Was meine neue Kollegin sicher genauso sieht.

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