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Barmer Arztreport: Versorgungsdefizite bei Reizdarm

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Patienten durchlaufen teilweise eine Jahre dauernde Arzt-Odyssee bis zur endgültigen Diagnose. Patienten durchlaufen teilweise eine Jahre dauernde Arzt-Odyssee bis zur endgültigen Diagnose. © iStock.com/SolStock
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Zu wenig Augenmerk auf funktionelle Störungen, unsichere Diagnosekodierungen und umstrittene Medikationen – Experten benennen Mängel in der Versorgung des Reizdarmsyndroms.

Bis zu elf Mio. könnten laut Umfragen erkrankt sein, doch nur 1,1 Mio. Patienten erhielten 2017 die Diagnose Reizdarmsyndrom (RDS). In ihrem aktuellen „Arztreport 2019“ beziffert die Barmer den Anteil der RDS-Neudiagnosen auf 1,34 % der Bevölkerung. Frauen sind dabei doppelt so oft betroffen wie Männer.

Aus Sicht von Professor Dr. Joachim Szecsenyi vom aQua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen zeigen diese Zahlen nur die Spitze des Eisbergs. Der Autor des Reports verweist auf die RDS-Prävalenz aus Befragungsstudien, die deutlich über den Diagnoseraten liegt. Internatio­nal zeigt sich eine Prävalenz von bis zu 25 %, eine Erhebung (2011/2012) ergab für Deutschland 16,6 %.

Deutlich mehr Erkrankungen bei jungen Menschen

Prof. Szecsenyi sieht als Ursache für die Differenz zwischen Diagnosen und Befragungszahlen, dass nur ein kleiner Teil der Reizdarmbeschwerden als RDS-Diagnose bei den Kassen dokumentiert wird. „Wollen Ärzte sich nicht auf die Diagnose eines RDS festlegen, können sie nur symptombezogene ICD-10-Schlüssel zur Erfassung der einzelnen Beschwerden verwenden.“

Auch eine Fixierung auf rein organische Erklärungen für Erkrankungen – bei Ärzten wie auch Patienten – könne die Akzeptanz einer Diagnose von funktionellen Störungen wie RDS verhindern. Von einem größeren Teil der Betroffenen würden Symptome gegenüber den behandelnden Ärzten wahrscheinlich auch nicht thematisiert.

Prof. Szecsenyi betont die deutliche Zunahme der Diagnosehäufigkeit bei Betroffenen zwischen 23 und 27 Jahren; hier stieg die Anzahl der Diagnosen in den Jahren 2005 bis 2017 von knapp 40 000 auf 68 000. In den Bundesländern variieren RDS-Diagnoseraten zwischen 1,07 % in Sachsen-Anhalt und 1,53 % im Saarland. In welchem Maße dies durch Beschwerdeschilderungen der Patienten, Diagnosekodierungen der Ärzte oder regional geprägte Auffassung von Erkrankungen bei Patienten und/oder Ärzten verursacht sei, ließe sich schwer abschätzen.

Erkrankung mit Vorlauf

Bereits acht Jahre vor einer erstmaligen RDS-Diagnose liegen laut aQua-Institut die jährlichen Kosten für die ambulante, stationäre und Arzneimittelversorgung dieser Patienten im Schnitt um 277 Euro höher als in einer Vergleichsgruppe Gleichaltriger ohne RDS-Diagnose. Im Jahr vor der Erstdiagnose beträgt die Differenz 462 Euro. Und im Diagnosejahr sind es 982 Euro bei Gesamtkosten von 4849 Euro pro RDS-Patient. Die Differenzen ergeben sich maßgeblich aus einer höheren ambulant-ärztlichen Betreuung. Das deutet zumindest bei einem Teil der Betroffenen auf bereits lange vor der RDS-Erstdiagnose bestehende Gesundheitsprobleme hin.

Prof. Szecsenyi fiel zudem die Verordnung von Protonenpumpenhemmern bei 38,6 % der RDS-Patienten – 1,74-mal mehr als in der Vergleichsgruppe – auf. Das sei zu hinterfragen: „Magensäureblocker werden inzwischen bei Langzeitanwendung u.a. mit einem erhöhten Risiko für Lungenentzündungen, Brüchen und Magen-Darm-Infektionen in Verbindung gebracht und können die Wirkung anderer Arzneimittel beeinflussen.“ Professor Dr. Christoph Straub, Vorstandschef der Barmer, sprach opioidhaltige Schmerzmittel für 100 000 Patienten im Jahr 2017 an: „Hier ist nicht nur die Wirkung fraglich, sondern auch das Risiko einer Medikamentenabhängigkeit gegeben.“ Zudem monierte er eine bis zu acht Jahre dauernde Arzt-Odyssee bis zur Diagnose und den häufigen Einsatz bildgebender Verfahren, „obwohl diese zur RDS-Abklärung nicht explizit vorgesehen sind“. Laut Barmer-Statistik erhielten 2017 9,2 % der ambulant behandelten und 5,6 % der RDS-Fälle im Krankenhaus in zeitlicher Nähe zur Diagnose eine CT. Die MRT-Raten lagen bei 17,1 % bzw. 3,2 % der Fälle.

Quelle:  Barmer-Pressekonferenz

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