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Impfkampagne und Digitalisierung „Die Politik bremst die Praxen aus“

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

Ärztevertreter wünschen sich von der Politik mehr Weitsicht und Verlässlichkeit. Ärztevertreter wünschen sich von der Politik mehr Weitsicht und Verlässlichkeit. © Feodora – stock.adobe.com
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Spahn aus / Ampel an, der ruckelige Booster-Boom und die leidige Digitalisierung. Das waren die drei großen Themenblöcke, zu denen der KBV-Vorstand und die zugeschalteten Delegierten der Vertreterversammlung ihre Ver­ärgerung und Forderungen übers Internet kundtaten.

„Organisationstalent galt mal als deutsche Kernkompetenz, um die uns das Ausland bewunderte. Heute fragen einen US-Amerikaner, warum wir Corona nicht in den Griff bekommen. Nicht die Praxen bremsen den Impffortschritt, sondern Politik bremst die Praxen massiv aus!“, schimpft KBV-Chef Dr. Andreas Gassen über die jüngsten Volten in der hiesigen Pandemiepolitik. „Wem hilft es, wenn wir Vertragsärzte mit Apothekern und Zahnärzten um nicht vorhandenen Impfstoff konkurrieren? Wir stehen schlichtweg mit leeren Händen da. Und das fast ein Jahr, nachdem mit dem Impfen in Deutschland begonnen wurde. Das ist der eigentliche Skandal!“

Sein Vorstandskollege Dr. ­Stephan Hofmeister erzählt von erschütternden Berichten aus der Kollegenschaft. Danach sind MFA mit langjähriger Berufserfahrung vor ihren Chefinnen oder Chefs weinend zusammengebrochen, und manche hätten gekündigt, „weil sie es nicht mehr aushalten, Tag für Tag immer neue Regelungen erklären zu müssen, ängstliche Menschen zu beruhigen, sich teilweise beschimpfen und bedrohen zu lassen für Dinge, für die sie keinerlei Verantwortung tragen“.

MFA mit Bonus motivieren!

Die Vertreterversammlung der KBV fordert die neue Bundesregierung und Politiker in Bund und Ländern auf, neben den Pflegeberufen „auch die besonderen Leistungen, Belastungen und Bewährungen des Praxispersonals in der Pandemie mit der gesetzlichen steuerfinanzierten Corona-Bonus-Zahlung zu würdigen“. Durch fehlende politische Wertschätzung sinke die uneingeschränkte Bereitschaft des Praxispersonals, die umfangreichen Corona-Impf- und -Testkampagnen mitzutragen. „Es wird eine weitere Abwanderung des knappen Personals aus den Arztpraxen und eine Beschädigung der ambulanten Versorgung geben.“

Der KBV-Vorstand ist restlos bedient: Während in den Praxen im Eiltempo nochmals Millionen Menschen geimpft werden, werfe die Politik den Ärzten unnötig Knüppel zwischen die Beine – mit verwirrenden Ankündigungen, unpraktikablen Testregelungen und Lieferproblemen bei den Vakzinen. Dass die Ampelkoalition einen ständigen Corona-Krisenstab und einen Expertenrat im Kanzleramt einrichten will, wird von der KBV begrüßt. „Bleibt zu hoffen, dass diese Gremien nicht nur mit Theoretikern, sondern auch mit Menschen aus der Versorgung und anderen Bereichen der Gesellschaft besetzt werden, und dass nicht nur die Krise als solche, sondern auch die Folgen von Maßnahmen in den Blick genommen werden“, sagt Dr. Gassen. Eine Impfpflicht sei eine politische Entscheidung. „Medizinisch kann man dagegen wenig einwenden.“ Zu bedenken seien folgende Punkte: Wer ist gut begründbar von einer Pflicht erfasst? Welches Impfschema gilt? Gibt es genug Impfstoff? Wer lädt ein? Muss die Impfung aufgefrischt werden und wenn ja, wie oft?

Reform der Notfallversorgung – der Passus liest sich gut

Vielleicht, so Dr. Gassen, sei es sogar eine gute Idee, die Impfpflicht gegen das Coronavirus zunächst für zwei oder drei Jahre zu beschließen. „Ist Corona dann endgültig endemisch, kann man das verpflichtende Element austauschen gegen eine Empfehlung, wie bei der Influenza.“ Was erwartet die KBV noch von der neuen Bundesregierung? „Vor allem zwei Dinge, die wir in der Pandemie schmerzlich vermisst haben: Verlässlichkeit und Weitsicht“, sagt der KBV-Chef. Als positive Signale der Ampelparteien wertet er z.B. das Bekenntnis zum Bürokratieabbau sowie Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Der Passus zur Reform der Notfallversorgung lese sich vielversprechend, werde doch den KVen hier eine zentrale Funktion zugestanden. Die Koalitionäre greifen auch die KBV-Idee der Integrierten Gesundheitszentren auf. Unklar bleibe jedoch, so Dr. Gassen, ob sie damit eher die weitere Öffnung kleiner Kliniken für die ambulante Versorgung meinten. Im G-BA sollen Entscheidungsprozesse beschleunigt und zugleich weitere Akteure wie die Pflege und andere Gesundheitsberufe mehr Mitsprache bekommen. „Beides unter einen Hut zu bekommen dürfte schwierig werden, wenn die Beratungsverfahren im G-BA nicht grundsätzlich verschlankt werden.“

Virtueller Probebetrieb außerhalb der Sprechzeiten

Keine Stärkung der Selbstverwaltung sieht Dr. Gassen auch im angekündigten Ausbau der gematik zu einer staatlichen Gesundheitsagentur. Aus dem 51-%-Anteil des Bundesgesundheitsministeriums würden dann 100 % – und alle Leistungserbringer-Organisationen sowie Kos­tenträger wären draußen. „Klar ist: Wir brauchen eine vernünftige Strategie, die die Praxen mitnimmt und motiviert, statt eines strafbewehrten Punktekatalogs, bei dem nur technische Meilensteine und Termine abgehakt werden“, betont Dr. Gassen. Die Digitalisierung müsse von der Versorgung her gedacht werden und nicht umgekehrt. „Die Kunst wird sein, heute schon eine Telematikinfrastruktur zu entwerfen, die zu den technologischen Möglichkeiten in fünf, zehn und 15 Jahren passt“, sagt KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel. Die Technik, die die Praxen derzeit installieren müssten, sei jedenfalls bereits veraltet – und funktioniere oft noch nicht einmal.

Kodierrichtlinie: halbes Jahr Übergangsfrist eingebaut

Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz wurde die KBV beauftragt, verbindliche Vorgaben zum Kodieren zu erstellen und zum 1. Januar 2022 einzuführen. Die KBV bietet den PVS-Herstellern dazu seit April 2021 ein Zertifizierungsverfahren an. Ein Großteil der Produkte wird jedoch die Zertifizierung nicht rechtzeitig schaffen. Die KBV-Vertreterversammlung hat deshalb eine Übergangsregelung bis zum 30. Juni 2022 beschlossen: Der verpflichtende Start der digitalen Kodierunterstützung verschiebt sich in den Praxen auf jeweils den Zeitpunkt, zu dem die Software bei ihnen vorhanden und installiert ist – spätestens aber auf den 1. Juli 2022.

Praxisteams wünschten sich die Möglichkeit eines „virtuellen Probebetriebs“, in den sie sich außerhalb der Sprechzeiten einloggen können, um Anwendungen Schritt für Schritt durchzuspielen – mit ihrer Praxis-Konfiguration aus PVS, Modulen und Geräten. Die derzeitigen Tests, etwa bei der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und beim E-Rezept, seien nicht ausreichend. „Die gematik vermeldet Erfolge, die es nicht gibt“, sagt Dr. Kriedel. So hätten es in Berlin und Brandenburg von den angestrebten tausend echten, abgerechneten E-Rezepten nur 42 über die Ziellinie geschafft (Stand: 01.12.2021) – und das bei einer Anwendung, die ein bis zwei Millionen Mal pro Tag genutzt werden soll. Auch die ersten Erfahrungen mit der eAU, die rund 1.570 Praxen Anfang November online meldeten, zeigten, dass die Technik unausgereift sei. „Das Ausstellen und Versenden der eAU kostet mehr Zeit als der Papierausdruck.“ Nur 4 % der befragten Praxen konnten erfolgreich eine eAU an die zuständige Krankenkasse versenden. Dr. Kriedel ist sich sicher: „Die eAU fliegt nicht, zumindest nicht zum 1. Januar.“ Die KBV fordert weiterhin eine Konsolidierungsphase – was ihr die gematik als grundsätzliche Verweigerungshaltung auslege, sagt Dr. Kriedel. Dabei müsse die gematik „endlich ihrer Betriebsverantwortung gerecht werden: von der Zulassung bis zur Anwendungskontrolle“.

Unterfinanzierung bei den TI-Kosten der Praxen

Die KBV stellt auch eine Diskrepanz zwischen den Beträgen fest, die durch die TI-Erstattungspauschalen gedeckt sind, und den Preisen, die die IT-Firmen tatsächlich in Rechnung stellen. Das Ausmaß dieser Unterfinanzierung schwanke je nach Hersteller und Konfiguration. Im Schnitt sei eine Praxis in den letzten vier, fünf Jahren aber wohl auf TI-Kosten von mindestens 9.000 Euro sitzengeblieben, so Dr. Kriedel. Aus Niedersachsen stammen Daten, wonach eine chirurgische Zweier-Gemeinschaftspraxis seit 2018 bei der TI mehr als 14.000 Euro für Soft- und Hardware drauflegte. Die KBV-Vertreterversammlung hat den Vorstand beauftragt, bei den Krankenkassenverbänden eine komplette Refinanzierung der den Praxen für die TI-Einführung entstandenen Kosten einzufordern, auch für die in den letzten Jahren nicht ausgeglichenen Kosten. Dr. Kriedel verweist darauf, dass im kommenden Jahr der Einsatz der ersten Konnektoren abläuft, sie also funktionsuntüchtig würden und vermutlich ausgetauscht werden müssten. „Hierfür brauchen wir unbedingt eine ausreichende Finanzierungsvereinbarung.“ Bei Nichteinigung mit den Kassen will die KBV das Schiedsamt einschalten. Dr. Kriedel erinnert auch daran, dass am 1. Januar 2022 die nächste Stufe der IT-Sicherheitsrichtlinie in Kraft tritt. Mit Blick auf die Gefahr von Cyberangriffen, die tagelang das IT-System einer Praxis lahmlegen könnten, appelliert er an die Ärzte: „Schützen Sie Ihren Praxisbetrieb und holen Sie sich fachkundige Dienstleister an Ihre Seite“ – auch um im Fall einer Attacke direkt Hilfe rufen zu können.

Quelle: KBV-Vertreterversammlung

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