
Grenzenlos gefährlich Gefährliche Lücken: Gesperrte Ärztinnen und Ärzte praktizieren weiter

Ein Psychiater, der in den USA eine Haftstrafe abgesessen hat, weil er ohne medizinischen Grund verschreibungspflichtige Medikamente an Patientinnen und Patienten verkauft hatte, betreibt heute eine psychiatrische Praxis in Nordmazedonien. Ein rumänischer Arzt, dem die Ausübung seines Berufs in Großbritannien aufgrund von schwerwiegenden Übergriffigkeiten untersagt wurde, arbeitet heute in einem Krankenhaus in Rumänien.
Ein deutscher Arzt, der in der Schweiz wegen sexuellen Missbrauchs einer 18-jährigen Patientin ein lebenslanges Berufsverbot erhielt, ist in einem privaten medizinischen Zentrum in Deutschland angestellt. Ein Facharzt für HNO-Heilkunde wurde 2021 im British Medical Register gestrichen und verlor 2022 in den Niederlanden die Zulassung. Heute arbeitet er als Facharzt mit Schwerpunkt pädiatrische Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen sowie Kopf- und Hals-Onkologie in eigener Praxis in Deutschland.
Ein Rechercheprojekt hat über 100 Fälle aufgedeckt
Das sind nur vier von über 100 Medizinerinnen und Medizinern, die weiterhin mit Patientinnen und Patienten arbeiten bzw. arbeiteten, obwohl ihnen in einem oder mehreren Ländern die Ausübung des Arztberufs untersagt worden war. Aufgedeckt wurde dieser Missstand vom OCCRP, dem Organized Crime and Corruption Reporting Project. Hinter dem Projekt stehen Redakteurinnen und Redakteure, Forschende und Fachleute aus dem Dateningenieurswesen aus sechs Kontinenten, die die Aufdeckung und Verfolgung organisierter Kriminalität verschiedenster Art im Blick haben.
In der Berichterstattung zu „Bad Practice“ deckten dann Reporterinnen und Reporter aus 50 Medienunternehmen die mangelnde Transparenz beim Schutz von Patientinnen und Patienten auf. Sie werfen Europa Systemversagen vor, untaugliche Warnsysteme, behördliche Selbstgefälligkeit und mangelnde Rechenschaftspflicht. Die Journalistinnen und Journalisten hatten monatelang öffentliche Aufzeichnungen durchforstet, um Informationen über zugelassene und nicht zugelassene Ärztinnen und Ärzte zu erhalten.
Sie stießen dabei auf erhebliche Probleme, denn nur sieben der untersuchten Länder veröffentlichen Daten über inaktive, gesperrte oder suspendierte Ärztinnen und Ärzte und es mussten dutzende Informationsfreiheitsanfragen sowie Petitionen bei nationalen Behörden zur Herausgabe von Daten eingereicht werden. Recherchiert wurde außerdem mithilfe von Anrufen bei neuen Arbeitsplätzen, Online-Terminvereinbarungen oder persönlichen Besuchen in den Praxen der jeweiligen Medizinerinnen und Mediziner.
Doch letztlich konnten die Informationen aus über 2,5 Millionen Datensätzen aus öffentlichen Registern, Informationsanfragen, Gerichtsakten, lokalen Medienberichten und vertraulichen Quellen vom Forschungs- und Datenteam des OCCRP zusammengefasst werden. Das brachte mehr Transparenz zu den gesperrten Ärztinnen und Ärzten, die in anderen Ländern zur Praxis zugelassen waren. Die Erkenntnisse gelten allerdings nur als die Spitze des Eisbergs.
„Ein Riesenproblem“
Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Stefan Schwartze fordert eine Überprüfung der Bundesgesetzgebung und der bestehenden Meldesysteme. Wer seine Lizenz verloren habe, dürfe in Deutschland nicht weiter arbeiten, erst recht nicht, wenn die Approbation wegen Sexualstraftaten oder anderer schwerer Delikte verloren wurde. Er bezeichnet die aktuelle Situation als „ein Riesenproblem für Patienten“.
Quelle: Spiegel Panorama
Was ist das IMI?
Das Binnenmarkt-Informationssystem IMI unterstützt seit 17 Jahren die Zusammenarbeit von Behörden in der EU. Beim Europäischen Berufsausweis oder der Überprüfung öffentlicher Urkunden wie polizeilichen Führungszeugnissen ist IMI stark gefragt. In Deutschland wird IMI vom Bundesverwaltungsamt (BVA) koordiniert. Anfang 2024 wurden laut Jahresbericht der EU-Kommission rund 12.000 Behörden und 40.000 Nutzer:innen auf 21 Politikfeldern registriert. Das „Internal Market Information System“ ist in 23 Amtssprachen der EU verfügbar. Anfangs wurden 30 Anfragen pro Monat gestellt, inzwischen sind es mehr als 9.000 Recherchen monatlich. Bis Ende 2023 waren es schon mehr als eine halbe Million Informationsaustausche. Die häufigsten Anfragen betreffen Berufsqualifikationen. Denn IMI ermöglicht deren schnelle Überprüfung, wenn Berufstätige ihrem Beruf im Ausland nachgehen möchten – etwa als Krankenschwester in Dänemark oder als Lehrer in Schottland. Nachgefragt werden kann auch, ob eine Firma in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig niedergelassen ist, ob dem Gewerberegisterauszug vertraut werden kann oder ob ein Insolvenzverfahren gegen ein Unternehmen besteht. In Deutschland habe der Aufbau von IMI aufgrund des föderalen Systems eine große Herausforderung dargestellt, so das BVA. Mittlerweile sind mehr als 5.600 deutsche Behörden in IMI registriert.
Wie groß die Schäden sind, die Opfer erlitten haben, macht das Beispiel des genannten rumänischen Arztes deutlich. Der Assistenzarzt für Trauma und Orthopädie am Royal Cornwall Hospital im Südwesten Englands hatte laut späterem Gerichtsurteil zwischen 2015 und 2020 systematisch Patienten unnötigen, invasiven und intimen Eingriffen zu seiner eigenen sexuellen Befriedigung unterzogen.
Die Kanzlei Irwin Mitchell, die die Patienten bei Klagen gegen den Arzt unterstützt, spricht von Handlungen wie das „Einführen und/oder Entfernen eines Harnkatheters, rektale Untersuchungen, Hodenuntersuchungen, jegliche Untersuchung/Behandlung oder Berührung des Genitalbereichs“. 277 Mal verabreichte er männlichen Patienten Schmerzmittel und Abführmittel rektal, bei einer Patientin tat er es einmal. Die tatsächliche Zahl der Geschädigten ist bis heute unklar.
Anfang 2024 wurde der Mediziner vom britischen Medical Practitioners Tribunal Service wegen Fehlverhaltens aus dem Ärzteregister gestrichen. Heute arbeitet er in seiner Heimat Rumänien als Trauma- und Orthopäde im Kreiskrankenhaus der Stadt Cluj-Napoca, mit ärztlicher Zulassung. „Keiner der Patienten hat sich über mich beschwert. Im Gegenteil, sie waren zufrieden und haben mir gratuliert“, soll er dem Recherchekollektiv gegenüber geäußert haben.
Dass es solche Fälle geben kann, sehen OCCRP und Partner in einem unzureichenden Informationsaustausch zwischen den Staaten und einer mangelnden Reaktion einiger Behörden auf Berufsverbote außerhalb ihres eigenen Zuständigkeitsbereichs begründet. Die Länder der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) sind zwar eigentlich verpflichtet, Warnmeldungen über Ärztinnen und Ärzte zu versenden, deren Berufsausübung von nationalen Behörden oder Gerichten – auch nur vorübergehend – eingeschränkt oder verboten wurde. Zu melden ist über das Binnenmarktinformationssystem (IMI) der Europäischen Kommission, das dann wiederum die medizinischen Behörden in den EU- und EWR-Ländern automatisch benachrichtigt.
Fakt ist jedoch, dass das Warnsystem – wie die Recherchen zeigen – von einigen Ländern kaum oder nicht genutzt wird. Die EU-Kommission erklärte in einer schriftlichen Antwort auf den übermittelten Bericht den Mitgliedstaaten, zukünftig mehr Kontext zu bieten, „um sie bei der Unterscheidung von Fällen zu unterstützen, die einer Weiterverfolgung bedürfen“. Die EU will dazu u. a. Leitlinien bereitstellen, die den Austausch bewährter Verfahren zur Weiterverfolgung von Warnmeldungen erleichtern. Letztendlich aber, betont die EU-Kommission, lägen die rechtlichen Konsequenzen der Warnmeldungen in den Händen der Mitgliedstaaten.
Nicht-europäische Länder als Zufluchtsort für Kriminelle
Staaten außerhalb des EWR haben bisher keinen Zugang zu entsprechenden Warnmeldungen. Das bedauert die Präsidentin der Schweizerischen Ärztevereinigung, Yvonne Gilli. Sie drängt auf eine Vernetzung mit dem EU-Warnsystem. Die Schweiz könne sonst zu einem Zufluchtsort für Ärzte werden, die eigentlich nicht mehr praktizieren dürften, äußerte sie gegenüber OCCRP: „Menschen mit einer gewissen kriminellen Energie gehen dorthin, wo es Lücken im System gibt.“
Auch Gary Walker von der britischen Kanzlei Enable Law, der 40 Opfer des o. g. HNO-Facharztes vertritt, fordert einen breiteren Informationsaustausch. Es müsse eine „dringende Überprüfung“ der internationalen Systeme, über die medizinische Aufsichtsbehörden Informationen über Disziplinarmaßnahmen und strafrechtliche Sanktionen austauschen, geben.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht