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KBV zur Coronapandemie: „Wir werden lernen müssen, mit dem Virus zu leben“

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

Schlagartig werde sich diese Lage nicht ändern. Schlagartig werde sich diese Lage nicht ändern. © iStock/nito100
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Bei Corona gilt es jetzt, „von der ,Palme der Angst und des Schreckens‘ herunterzukommen“, sagt KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister. „Der Zustand der Pandemie darf nicht dauerhaft dazu benutzt werden, Eingriffe in die Grundrechte aufrechtzuerhalten.“

Wie gut, dass KBV-Vertreterversammlungen gestreamt werden und auf Youtube anzuschauen sind. So haben Bürger die Möglichkeit im O-Ton zu hören, wie sich die obersten Vertreter der Vertragsärzte – die ambulant im Wesentlichen die Versorgung der Cornonabetroffenen stemmen – um eine realistische Einschätzung der Lage und das Setzen medizinischer Prioritäten bemühen.

Schon bei der Eröffnung der jüngsten KBV-Vertreterversammlung brachte es deren Vorsitzende, die bayerische Hausärztin Dr. Petra Reis-Berkowicz, auf den Punkt: Die medial präsentierten Grafiken zu COVID-19 verzerrten die Wahrnehmung. „Man könnte meinen, dass es nur noch ein Gesundheitsrisiko gibt, weil alle anderen Gesundheitsrisiken aus dem Blickfeld geraten sind. Es wäre interessant, Arbeitslosigkeit, Herzinfarkte, Diabetes­entgleisungen, Krebserkrankungen oder all die anderen Kollateralschäden des Lockdowns auch einmal auf Dashboards zu betrachten.“

Zweiter Lockdown würde die Folgeschäden vergrößern

Laut RKI und DIVI-Intensivregister seien derzeit etwa 230 Personen mit SARS-CoV-2-Infektionen in intensivmedizinischer Behandlung, davon 130 beatmet. „Wir sind ein 82 Millionen starkes Volk“, erinnert Dr. Reis-Berkowicz. „Es zeichnet sich ab, dass der Verlust an Lebensjahren durch die aufgrund des Lockdowns stattgefundene Unter- und Fehlversorgung von anderen akuten und chronischen Erkrankungen, aber auch aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen, wahrscheinlich ungleich größer sein wird als der direkte Schaden durch COVID-19“, sagt die Ärztin. „Ein zweiter Lockdown würde die Folgeschäden noch einmal vergrößern. Wir als Gesellschaft werden lernen müssen, mit dem Virus zu leben.“

Die Politik müsse vom ungezielten Testen wegkommen. Notwendig sei ein gezieltes Testen von symptomatischen Menschen, Kontaktpersonen sowie bei den vulnerablen Gruppen der Gesellschaft, Gesundheitsberufen, Pflegeinrichtungen, Schulen etc. Ähnlich argumentiert KBV-Chef Dr. Andreas Gassen. „Wir haben viel weniger Fälle als im Frühjahr und nur noch sehr wenige schwere Fälle.“ Ob das am gesunkenen Durchschnittsalter der Infizierten oder an einer Abschwächung des Virus läge, wüssten auch die renommiertesten Wissenschaftler nicht sicher.

Jedenfalls werde sich diese Lage nicht schlagartig ändern. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) berechnet einen Frühindikator, der angibt, wie viel Zeit für politische Maßnahmen bleibt, bis die regionalen medizinischen Belastungsgrenzen erreicht sind. Im Bundesdurchschnitt lag die Vorwarnzeit am 10. September bei 58 Tagen. „Es besteht daher kein Grund für wilden Aktionismus“, so Dr. Gassen.

Beratergremium braucht die Stimme der Vertragsärzte

Auch ohne Reiserückkehrer dürfte das wöchentliche Testaufkommen ab dem Herbst aufgrund saisonaler Effekte um mindestens 1000 Tests je 100 000 Einwohner steigen – also um ca. 800 000. Dies werde zu einer erhöhten Zahl positiver Testergebnisse führen, ohne dass hieraus zwangsläufig eine steigende pandemische Aktivität abzuleiten sei, sagt Dr. Gassen. Die Politik solle deshalb die Grenze für das Ergreifen von Maßnahmen bei mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner flexibilisieren – das Zi-Frühwarnsystem helfe dabei.

Sollte ein nationales interdisziplinäres Beratergremium eingerichtet werden, müssten Vertragsärzte und -psychotherapeuten daran beteiligt werden, fordert die KBV-Spitze. Schließlich gehöre der Umgang mit Infektionen und Ängsten zu ihrem Beruf. Maskentragen werde jedenfalls nicht reichen, um im Herbst und Winter einen starken Anstieg von Infektionen zu vermeiden. KBV und KVen haben ein Konzept vorbereitet, das sowohl Impfungen gegen SARS-CoV-2, sobald ein Impfstoff verfügbar ist, als auch die Impfung gegen Influenza umfasst. Es sei ein Angebot an die Politik, so Dr. Gassen. „Take it or leave it – wir wollen hinterher nur kein Gejammer oder Schuldzuweisungen hören.“

25 Wochenstunden für die Pandemie

Eine Online-Umfrage vom 28. August bis 9. September 2020, bei der 78 Berliner haus- und fachärztlichen Schwerpunktpraxen mitgemacht haben, ergab: Sie schätzen den zeitlichen Aufwand für pandemiebezogene Aufgaben im Schnitt auf rund 25 Wochenstunden. Gegenwärtig betreuen sie pro Woche im Mittel 41 bestätigte positive Fälle sowie Verdachtsfälle. 22 Betreute gehören nicht zum Patientenstamm. Das haben das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) und die KV Berlin ermittelt. Es handelt sich hier zu 63 % um Praxen die eine Infektionssprechstunde anbieten, 77 % vergeben PCR-Abstrichtermine. Demnach entfallen fast acht Wochenstunden auf telefonischer Anfragen zu COVID-19 sowie gut zehn Stunden auf Tests und Dateneingaben. Bei den positiv getesteten Patienten brauchen die Praxen durchschnittlich fast drei Wochenstunden für die Kommunikation mit Gesundheitsämtern, zur Patientenberatung und zum Monitoring. Aufgrund des „sehr niedrigen Anteils positiver Tests“ entfällt laut Zi und KV nur etwa ein Zehntel des pandemiebedingten Zeitaufwands auf die Begleitung und Behandlung positiv getesteter Patienten.

SARS-CoV-2 wird nicht aus der Welt verschwinden

Dass es wegen Corona einen Run auf die Grippe-Impfung gibt, kann Dr. Reis-Berkowicz nicht bestätigen. Nach wie vor sei viel Überzeugungsarbeit zu leisten, berichtet sie. Dennoch ist sie zuversichtlich, ihre 800 Dosen bis Weihnachten verimpft zu haben. „Durch Influenzaviren bedingte Todesfälle überschreiten die bisherigen COVID-19-assoziierten Sterbefälle regelmäßig – und gegen die Grippe gibt es eine wirksame Impfung“, ergänzt KBV-Vize Dr. Hofmeister. Es be­stehe allerdings die Hoffnung, dass sich das Einhalten der AHA-Regeln – Abstand, Hygie­ne, Alltagsmaske – während der Grippesaison infektionshemmend auswirke. Das Virus werde aber nicht aus der Welt verschwinden, betont Dr. Hofmeister. Er findet „das Gerede von einer zweiten Welle irreführend“. Dies dürfe „nicht als Drohszenario zur ,Gefügigmachung‘ missbraucht werden“. Die sog. neue Normalität könne jedenfalls keine andauernde Einschränkung von Grundrechten sein. Auch ein pauschales Drohen – „Grundrechte nur gegen Wohlverhalten“ – lehnt er ab. „Zu einer freiheitlichen Gesellschaft gehören auch ein gewisses Maß an Unsicherheit und allgemeine Lebensrisiken, die es auszuhalten gilt“, erklärt der Hausarzt. Es sei jetzt an der Zeit, mit gebotener Sorgfalt von der „Palme der Angst und des Schreckens“ herunterzukommen. Dr. Werner Baumgärtner, Delegierter aus Baden-Württemberg, geht diese Einschätzung der Coronakrise zu weit. „Man muss das ernst nehmen. Entwarnung ist erst da, wenn es eine Impfung gibt.“ Der Lockdown sei notwendig gewesen. Auch das Testen von Reiserückkehrern aus dem Ausland und das Tragen von Masken begrüßt er. Die Praxen müssten zu solchen Maßnahmen stehen. Dr. Baumgärtner berichtet von seiner Coronaschwerpunktpraxis, wo er „alter Sack“ die Abstiche vornahm. „Das war nicht lustig. Das war nicht toll.“

Quelle: KBV-Vertreterversammlung

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